Das Menschenbild der Selbstverantwortung

Nach amicativer Auffassung gilt:

Menschen können sehr wohl von Geburt an das eigene Beste selbst spüren.

Diese Fähigkeit haben Menschen. Sie können von Anfang an für sich selbst verantwortlich sein. Niemand kann an ihrer Stelle entscheiden, was ihnen wirklich nutzt und was ihnen wirklich schadet. Niemand muss stellvertretend für sie Verantwortung tragen. Erwachsene sind nicht verantwortlich für Kinder, denn das sind sie selbst – zu 100 Prozent. In Bezug auf die Selbstverantwortung besteht völlige Gleichwertigkeit zwischen jungen und erwachsenen Menschen.

Selbstverantwortlich zu sein bedeutet zweierlei:
•  die Welt zu deuten und zu bewerten nach der je eigenen, subjektiven Perspektive – und hier gibt es so viele Realitäten, wie es Lebewesen auf diesem Planeten gibt, und Menschenkinder bilden in dieser Fähigkeit keine Ausnahme.
•  entsprechend der jeweiligen Perspektive handeln zu wollen.

Selbstverständlich gibt es sowohl in der Erkenntnisebene als auch in der Handlungsebene zwischen Erwachsenen und Kindern immer wieder Unterschiede und Konflikte, und sie werden auf die vielfältigste Art und Weise bewältigt. Beispielsweise wird sich kein Erwachsener der Sicht, Deutung und den Gefühlen eines Kindes anschließen, wenn es das Fenster öffnet und sagt: »Ich bin eine Taube, ich kann fliegen!« und Anstalten macht, hinaus zuspringen. Der Erwachsene wird zu seiner Sicht und Deutung und seinen Gefühlen stehen: »Es gibt die Schwerkraft, ich will kein totes Kind!« Und er wird das Kind vom Fensterbrett holen. Doch bei aller Unterschiedlichkeit im Erkennen, Deuten und Fühlen und bei allem verstellten Weg im Handeln – alle Perspektiven sind von gleichem Rang: die Perspektive eines Kindes, nach der es handeln will, ist stets von gleicher Wertigkeit wie die eines Erwachsenen, nach der dieser handeln will. Was nicht bedeutet, den Perspektiven anderer zustimmen und sich ihren Handlungen unterordnen zu müssen!

Menschen sind selbstverantwortlich von Anfang an: Dies ist eine anthropologische Hypothese, ein Menschenbild. Es existiert heute als mögliche Sicht vom Menschen und wird vom einen akzeptiert, vom anderen abgelehnt – wie das stets bei Menschenbildern ist.

Das amicative Menschenbild der Selbstverantwortung ist von eindeutiger Klarheit: Man kann entweder der Auffassung sein, Menschen seien zu 100 Prozent selbstverantwortlich von Anfang an, oder man ist nicht dieser Meinung. Wer etwa auf 99 Prozent Selbstverantwortung setzt, behält sich einen Rest Verantwortung für andere vor, sein Gleichwertigkeitsgefühl ist in dieser Frage um ein entscheidendes Element anders, mit einem Vorbehalt versehen. Heute verstehen sich viele Erwachsene als großzügige demokratisch-partnerschaftliche Erzieher, die die Verantwortungsleine, an der sie ihre Kinder halten, recht lang machen. Aber sie halten die Leine letztlich doch in der Hand, während Amication diese Ich-bin-für-dich-verantwortlich-Leine endgültig durchgeschnitten hat.

Das amicative Menschenbild (Menschen können von Geburt an das eigene Beste selbst spüren, sie sind zu 100 Prozent selbstverantwortlich von Anfang an) ist für die Menschen, die entsprechend denken, fühlen und handeln, zu einer persönlichen Wahrheit und Grundüberzeugung geworden. Sie haben diese Position aus einer Vielzahl von Erkenntnissen und emotionalen Erfahrungen gewonnen, für die sie in ihrer gegenwärtigen Lebenssituation gerade offen sind. Die Botschaft des Kindes »Ich bin für mich selbst verantwortlich« hat sie erreicht. Dabei sind diese Menschen nicht nur davon überzeugt, dass so das Wesen des Menschen realistisch erfasst wird, sondern vor allem fühlen sie es, und sie leben danach.