Zumutungen

Immer wieder nahmen sich die erwachsenen Menschen unserer Kindheit unendlich viel heraus. Sie bauten sich vor uns auf und machten uns an. Sie wüteten gegen uns, sie schlugen uns mit »Das gehört sich nicht«, »Das tut man nicht«, »Was hast du wieder angestellt«, »Wenn ich dich schon sehe«. Sie waren oft genug in schrecklicher Weise unverschämt. Sie bannten uns mit ihren emotionalen Schwingungen und Demoralisierungen, sie verhexten uns, sie lähmten uns und ließen uns glauben, wie niedrig, unfähig und böse wir doch seien. Und wie dankbar wir dafür zu sein hätten, dass sie uns noch eine Chance gäben.

Heute können wir uns diese Situationen erneut vorstellen und ihnen mit unserer heutigen Kraft begegnen. Wenn ich zum Beispiel noch einmal sehe, wie sich Herr H. vor unserer Klasse aufbaute, uns anschrie und tobte, und dass ich jederzeit irgend etwas Furchtbares hereinbrechen erwartete, gelähmt war, hilflos und mich elend fühlte – so überlege ich heute, dass ich in intensivem Kontakt zu mir, meiner Würde und Menschenhaftigkeit aus der Bank getreten wäre, mich in den Gang gestellt hätte und mich aufgerichtet hätte. Ich hätte mich ihm zugewandt und mit ruhigem Stolz seinen Blick gefunden: Ich bin schön. Ich mag mich. Ich bin ein Mensch. Was kümmert dich? Ich hätte meine Souveränität ausgesandt, und nichts, aber auch gar nichts hätte ich von der Wut, dem Ärger, dem Stress und der Ohnmacht dieses erwachsenen Menschen auf mein Konto gebucht. Dies sind seine Dinge. Und in der Gewissheit darum, dass nur er seine Dinge leben kann, hätte ich vielleicht auch die Energie gefunden, ihm meine Nähe anzubieten. Und die Idee, klein, hilflos und gebannt, mit hängendem Kopf in der Reihe zu stehen und diesem wütenden Menschen ausgeliefert zu sein, wäre absurd.