Amicative Lebensphilosophie

Der Mensch ist ein zu erziehendes Wesen: Das ist eine Grundaussage der traditionellen Kultur. Auf dieser anthropologischen Hypothese baut sich die Sicht vom Kind, von den Beziehungen zu Kindern, vom Erwachsenen, von Ethik, Moral, Religion, Recht, Politik – auf dieser anthropologischen Hypothese baut sich das traditionelle Weltbild auf. In allen Lebensbereichen gelten die Folgerungen aus dieser Sicht. Danach ist es selbstverständlich, dass der Mensch stets besser werden kann und sollte, und dass es allgemein gültige Normen wie richtig und falsch und gut und böse gibt. Insbesondere in der Religion ist das erzieherische Denken verfestigt, aber auch in den moralischen Forderungen der Gegenwart, die objektive Wahrheit beanspruchen und genau wissen, wer auf der Seite des Lebens steht und wer nicht. Das Oben-Unten ist die Basis der traditionellen patriarchalischen Lebensphilosophie und hat die heutzutage weltweit verbreitete abendländisch-europäische Kultur geprägt.

Doch das patriarchalische Zeitalter geht seinem Ende entgegen – das dokumentieren das millionenfache Leid der beiden Weltkriege und des Holocausts, die atomare Bedrohung und die Umweltzerstörung. Die neuen psychischen Muster, die der Menschheit den Weg in die Zukunft weisen, sind die Achtung vor der Inneren Welt des Anderen, das existentielle Wissen von der Einen Welt, die Leitidee der Gleichwertigkeit aller Phänomene, die in all ihrer Vielfalt in einen achtungsvollen Diskurs treten. Diese neuen Muster erstrecken sich auch auf die Beziehung zu den Kindern, entdecken dort den patriarchalisch-imperialistischen Impetus und überwinden ihn: Kinder sind keine Erziehungsmenschen mit der entsprechend notwendigen Erziehungs-Beziehung, sondern Kinder sind ganz normale Menschen, zu denen ganz normale Beziehungen zu unterhalten sind. So, wie dies für die Beziehung von Europäern und Afrikanern gilt, für Männer und Frauen, für die verschiedenen Religionen, Philosophien, Kulturen dieser Erde. Es gilt nicht mehr »Macht euch die Erde untertan«, sondern es gilt, mit dem Anderen (Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen – dem ganzen Universum und selbstverständlich auch Kindern) in Beziehung zu treten und in Respekt vor seiner Würde die eigenen Anliegen vorzutragen.

Amication ist ein neu entdecktes Land, das zugleich uralt ist und in jedem Menschen lebt. Der Weg dorthin beginnt mit einer Einladung: innezuhalten – und zwar dem Kind gegenüber, das ein jeder selbst ist. Die Überwindung der pädagogisch-patriarchalischen Weltdeutung findet für einen jeden selbst in seinem Herzen statt, wenn sie überhaupt stattfindet. Denn dort – in der psychischen Konstitution – wurden Menschen ausgerichtet und gebunden an die Leitpfosten der traditionellen Sicht, wurden Kinder zu pädagogisch-patriarchalischen Menschen gemacht. Die amicative Lebensphilosophie hebt diese Fixierung auf.