Die Impulse für die Schule der Zukunft

1. Entscheidend ist die Richtung
Die Schulpflicht wird nicht morgen und auch nicht übermorgen aufgehoben. Sie wird erst dann beendet sein, wenn hierüber ein gesellschaftlicher Konsens besteht. Wann wird das sein? In wie vielen Generationen? Im Jahr 2050, 2100, 2200? Wenn die gesellschaftliche Situation so weit ist, dass allen Ernstes über die Aufhebung der Schulpflicht nachgedacht wird, wird es auf alle Fragen gute und überzeugende Antworten geben. Wir können nicht heute an einem einzigen Tag die Denkleistung eines halben oder ganzen Jahrhunderts zustande bringen. Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt, sagt Lao Tse.

Wenn die Richtung auf das selbstbestimmte Lernen einmal eingeschlagen ist, wenn ein gesellschaftlicher Konsens besteht, Kinder nicht mehr geistig zu versklaven, sondern mit ihnen in gegenseitigem Austausch zu leben, dann werden sich alle Details ergeben – Details, die heute noch nicht zu erkennen sind. Entscheidend ist die Richtung. Lernzentrum, Street-Teaching und Sommer-Seminar sind erste Überlegungen, wie die Erwachsenen mit den Kindern auch in der Frage ihres Lernens gleichwertig und freundlich zusammenleben können.

2. Lernzentrum:
1. Aufhebung des Lernzwangs
Es entfällt erstens der Zwang, überhaupt etwas lernen zu sollen, sowie zweitens der Zwang, etwas Bestimmtes lernen zu sollen. An die Stelle des Lernzwangs tritt das uneingeschränkte Recht auf Selbstbestimmung. Kinder entscheiden über die Lerninhalte und die Art ihres Lernens selbst.

2. Aufhebung der Schulpflicht
Die Schulpflicht wird durch das Recht, Lerninstitutionen besuchen zu können, ersetzt. Dieses Recht ist auch Eltern gegenüber durchsetzbar.

3. Aufhebung der Beurteilungsfunktion
Im Lernzentrum werden keine Beurteilungen durchgeführt.

4. Einführung des kinderloyalen Unterstützens
Der im Lernzentrum tätige Erwachsene ist ein kinderloyaler Unterstützer. Er steht als Vertrauter und Freund Kindern zur Seite und ist in seiner Arbeit unabhängig. Er ist für die Kinder als Person und fachlicher Experte da, wobei die personale Beziehung Vorrang hat.

5. Einführung amicativer Ausbildung
Der im Lernzentrum tätige Erwachsene erhält statt der pädagogischen eine amicative Ausbildung. Sie ist eine praktische Ausbildung mit Kindern.

6. Orientierung am »Haus der Offenen Tür«
Das Lernzentrum wird am Konzept »Haus der Offenen Tür« orientiert. Es ist ganztägig geöffnet, beschäftigt auch außerinstitutionelle Mitarbeiter und nimmt auch Funktionen eines Jugendzentrums wahr.

Soweit die Grundzüge einer Lerninstitution der Zukunft, sämtliche Details müssen noch überlegt und ergänzt werden. Es ist aber andererseits sehr die Frage, ob die Kinder überhaupt feste Einrichtungen aufsuchen werden. Werden die Kinder eine Schule wie das Lernzentrum annehmen? Wie oft sind sie da? Regelmäßig oder nur am Rande? Was sollte die Kinder veranlassen, zum Lernzentrum zu gehen? Die Lehrer? Das Angebot? Die Langeweile? Der Trend? Kinder leben ihr eigenes Leben, und das ist nur selten ein Leben nach der Uhr in einem Lernraum.

3. Street-Teatching
Die Kinder werden sich dort aufhalten, wo sie es jeweils wirklich wollen: Irgendwo in ihrem Wohnbereich, so wie es sich ergibt. Das kann das Lernzentrum sein, vielleicht für ein paar Stunden, oder auch nicht. Die Vermittlung des Wissens wird jedoch stets dort stattfinden, wo die Kinder real sind, vor Ort, bei ihnen. Und wenn es den Erwachsenen wichtig ist, Wissen zu vermitteln, werden sie es zu den Kindern bringen müssen, mit der nötigen Achtung und stets nur als Angebot. Und sie werden die Kinder nie mehr zwecks unerbetener Wissensvermittlung in die Schulen schaffen.

Die Schule der Zukunft wird sich auf die Kinder und ihre Art, dem Leben zu begegnen, einstellen. Die Erwachsenen werden also zu den Kindern hingehen und ihr Wissen mitbringen und vorstellen. Der Lehrer der Zukunft wird wie ein Streetworker arbeiten: als Street-Teacher. Er wird die Kinder an ihren Treffpunkten aufsuchen und seine Angebote dabeihaben. Er wird als Person und fachlicher Experte kommen, ohne pädagogische Absicht und List, authentisch, als Freund, als jemand, der dazugehört und der etwas zu bieten hat. Er wird sich nicht aufdrängen, aber auch nicht distanziert sein, er wird als Person seine eigene Position haben und sich durchaus auch verstricken lassen in den Alltag der Kinder, für die er eingeteilt ist. Herr Meier für die 6-8jährigen der Berliner Straße 1 bis 100, Frau Müller für die 6-8jährigen der Berliner Str. 101 bis 200, usw.

Vielleicht halten sich die Kinder und ihr Lehrer einige Zeit im Lernzentrum ihres Bezirks auf, vielleicht auch nicht. Vielleicht diskutieren sie ein Matheproblem vor dem Kaufladen, eine ethische Frage vor dem Kino. Vielleicht hören die Kinder zu, wenn er ihnen auf dem Spielplatz etwas über den Amazonas vorliest. Vielleicht malen sie zusammen ein Pflasterbild. Vielleicht machen sie nur einfach miteinander Lärm, mit Gitarre und Mülltonnenschlagzeug. Vielleicht überredet er sie zu einem Schreibspiel. Vielleicht akzeptieren sie seinen Vorschlag, einen Streit zu schlichten. Vielleicht reden sie einen Vormittag englisch miteinander, lesen einen Text von Mark Twain im Original, büffeln englische Grammatik und hören sich gegenseitig Vokabeln ab. Vielleicht lassen sie sich von ihm erklären, wie man eine Fahrkarte kauft. Vielleicht zeigt er ihnen einen Blitzableiter und sie kommen ins Gespräch über Elektrizität, Blitz und Donner. Das Leben ist voller Fragen und unzähliger Lernmöglichkeiten.

Street-Teaching wird eine sehr flexible Sache sein, mit einem spezifischen neuen Berufsbild und entsprechendem neuen Ethos. In diesem Beruf werden nur stabile Persönlichkeiten bestehen können, Menschen, die offen und freundlich, kreativ und von natürlicher Autorität sind. Diese Erwachsenen werden gut sein müssen, sehr gut, um vor den Kindern bestehen zu können. Und nur dann, wenn sie von den Kindern akzeptiert werden, ist ihr Einsatz gerechtfertigt.

Die Ausbildung zum Street-Teacher wird sich von der heutigen Lehrerausbildung deutlich unterscheiden, es müssen gänzlich neue Wege eingeschlagen werden. So werden die Lehrer während ihres Studiums mehr und mehr erfahren, wer sie selbst sind und wer Kinder sind: Sie werden sich selbst erkunden und in unmittelbarer Auseinandersetzung mit Kindern (wieder) erleben, was es bedeutet, ein Kind zu sein. Kongruenz, Akzeptanz und Empathie werden Schlüs­sel­qualifikationen sein, auf einer postpädagogischen Basis. Die Lehrerstudenten werden wieder lernen zu spielen – ohne doppelten Boden, einfach mit Menschen zusammen sein, den Regeln des Augenblicks und der persönlichen Wahrhaftigkeit untergeordnet. Ihre fachliche Qualifikation wird dabei nur ein zusätzlicher Aspekt sein.

4. Sommer-Seminar
So könnte es zum Beispiel nach den Sommerferien 2015 das erste »Sommer-Seminar« eines Bundeslandes geben. Dieses Projekt wird seit 2010 zunächst an den Universitäten entwickelt und diskutiert, dann von den Medien aufgegriffen und steht lange Zeit in den Schlagzeilen. Schließlich reagiert die Politik, und nach einer gewonnenen Landtagswahl, in der es auch um das »Projekt Sommer-Seminar« ging, beschließt der Kultusminister, das Sommer-Seminar im Herbst 2015 zu realisieren:

Im Anschluß an die Sommerferien können die Kinder vier Wochen lang zur Schule gehen, müssen es aber nicht. Der Schulbesuch ist vier Wochen lang freigestellt, die Kinder entscheiden selbst, ob sie zur Schule gehen oder nicht. Die Lehrer sind da, jeden Tag, doch sie haben in diesen vier Wochen eine andere Aufgabe als sonst: Sie machen Angebote und stehen den Kindern für ihre Lernwünsche zur Verfügung. Die Angebote der Lehrer sind vielfältig, die Lehrer wurden in besonderen Weiter­bil­dungsseminaren dafür eingehend geschult. Das Angebot einer Schule hängt sehr von den Ideen und der Initiative der jeweiligen Lehrerschaft ab, aber gerade die Vielfalt ist es auch, die das Projekt so interessant macht. Die Lehrer werden ermutigt, sich von ihren persönlichen Hobbys und Neigungen leiten zu lassen, wenn sie den Kindern diesen Monat als Lernhelfer zur Verfügung stehen. Denn dann, wenn sich ein Erwachsener wohl fühlt, wird ihn seine positive Einstellung beflügeln – er und die Kinder werden wesentlich mehr leisten als sonst. Überhaupt wird das gesamte Projekt mit viel psychologischer Überlegung begleitet, und Vorstellungen von Authentizität, persönlicher Wahrhaftigkeit und der Freiheit des Lernenden und des Lehrenden werden für viele zu neuen Leitideen.

Die Kinder reagieren auf das Angebot zunächst mit viel Skepsis, doch dann mit großer Begeisterung. Wie sich in den wissenschaftlichen Untersuchungen zeigt, die dem Sommer-Seminar 2015 folgen, hatte sich nämlich schnell herumgesprochen, dass die Schule so ganz anders war, dass die Lehrer völlig anders auftraten und dass es einfach riesigen Spaß machte, sich in der altgewohnten Zwangsanstalt ernst genommen und geachtet zu fühlen. Die Wissenschaftler sprechen von einer »Explosion des Wissens«, das in diesem einen Monat erfolgt sei, die Wirtschaft, die Handelskammern und die Industrieverbände reagieren auf das Sommer-Seminar optimistisch.