Kinder müssen zur Schule, sonst lernen sie nichts. Die Anmaßung und Menschenrechtsverletzung, die ein solcher Satz enthält, ist schwer zu erkennen und schwer zu erfühlen. Und doch kommt es gerade darauf an. Wie könnte es gelingen, das Nicht-mehr-Erkennen und das Nicht-mehr-Fühlen zu überwinden? Das folgende Bild soll helfen, die verlorengegangene Sensibilität für die Würde des jungen Menschen und sein Recht auf selbstbestimmtes Lernen wiederzufinden.
Zukunft, 2215
London, im Mai 2215. Sie sind in den Ferien in England und kommen nach einem erlebnisreichen Vormittag zum Tower. Seit langer Zeit ist in dieser ehemaligen Trutzburg ein Museum eingerichtet, unter anderem sind die Kronjuwelen des britischen Königshauses dort dauernd ausgestellt. Doch diesmal gastiert eine Sonderausstellung, die für viel Aufsehen sorgt und die Sie sich nicht entgehen lassen wollen. Dort lassen sich »Werkzeuge der Schule des 20. Jahrhundert (1900–2000)« besichtigen.
Wie immer sind die Räume abgedunkelt, und die Besucher können im Kreis um die Exponate herumgehen. Das Besondere dieses Museums ist, dass man nicht stehen bleiben darf, wegen des großen Andrangs. Wer länger schauen möchte, muss dazu auf den rückwärts gelegenen Balkon gehen, der ebenfalls kreisförmig die Exponate umgibt. Nun, Sie sind im inneren Kreis und sehen, was es zu sehen gibt, und gehen langsam vorwärts. Flüstern ist im Raum, gespannte Aufmerksamkeit. Sie sehen hinter dem Panzerglas einen länglichen Gegenstand, etwa zwei Hände lang, mit vielen Symbolen versehen und anscheinend beweglich, ausziehbar. Sie haben keine Vorstellung davon, was das sein könnte. Sie lesen die kurze Beschreibung: »Mathematikunterricht – Rechenschieber«. Raunen umgibt Sie. Eine Frau liest aus dem Katalog: »Damit wurden die Kinder damals angehalten, ihre Gedanken in Zahlen zu zwingen und ihre Harmonie mit der Welt zu zerteilen. In Ad-die-ren und Sub-tra-hie-ren und Mul-ti-pli-zie-ren und Di-vi-die-ren.« Und sie sagt, und damit spricht sie Ihnen aus dem Herzen: »Schrecklich!«
Sie wenden sich dem nächsten Exponat zu. Eine Stange. Sie ragt neben der Vitrine nach oben und ist fünf Meter lang. Was um alles in der Welt wurde denn damit gemacht? »Sportunterricht – Kletterstange« steht auf dem Etikett. Was ist eine Kletterstange? Ihr Nachbar erklärt: »Damit wurden die Kinder gezwungen, ihre Arme und Beine so zu bewegen, wie der Lehrer es wollte. Die Kinder mussten da hinaufklettern.« Sie sind entrüstet: »Die haben sie gezwungen, ihre Arme und Beine? Die Kinder konnten über ihren Körper nicht selbst bestimmen?« »Schule«, sagt Ihr Nachbar, »Schule!«
Weiter geht es im Kreis. Nun sehen Sie ein Blatt Papier. Es enthält Sätze, aber diese Sätze sind voller Lücken. Was soll das? Sie lesen die Beschreibung für die Museumsbesucher: »Deutschunterricht – Arbeitsblatt zum Ausfüllen«. Wieder verstehen Sie nichts. Sie hören, wie zwei andere Besucher kommentieren: »Mit diesen Papieren wurden die Kinder in die vorgezeichneten Bahnen der Sprache gezerrt. Es gab besondere Regeln, wie die Sprache benutzt werden musste. Nichts erfolgte authentisch, so wie wir heute sprechen. Die Kinder mussten das, was sie sagten, analysieren und diesem System unterwerfen. Man nannte das ›Grammatik‹, und es gab so seltsame Teile wie ›Subjekt, Prädikat, Objekt‹. Die Kinder mussten die gesamten Regeln kennen und durften ihre Sprache nicht einfach benutzen und lieben. Sie entwickelten Abscheu zu ihrer Sprache und zu ihren Gedanken, wegen all dieser Unterdrückung. Unvorstellbar!« Ihnen schaudert, als Sie sich vorstellen, dass Kinder in das Korsett von Sprachregeln gezwungen wurden. »Und darin soll ein Gewinn gelegen haben?« Ihr Nachbar stellt sich als Historiker vor und sagt: »Ja, es gab einen großen Vorteil – für die, die andere beherrschen wollten, die sie sich gefügig machen wollten. Ihr Mittel war, durch die Schule ihre Gedanken und ihre Sprache unter Kontrolle zu bekommen.«
Eigentlich reicht es Ihnen jetzt, und Sie haben genug von der »Schule des 20. Jahrhunderts«. Aber noch müssen Sie im Kreis weiter. Nun sehen Sie einen hölzernen Gegenstand. Es ist ein Kasten, mit runden Kanten, und mit einer Stange am oberen Ende, versehen mit Drähten. Das Ganze etwa armlang. Was ist denn das, und was wurde damit gemacht? »Musikunterricht – Geige« lesen Sie. Sie schauen in Ihren Katalog: »Die Geige war kein reguläres Werkzeug der Schule, sondern sie war der Disziplinierung von Kindern mit besonderer musischer und spiritueller Begabung vorbehalten und diente der ›Strategie der Demoralisierung‹. Diese Kinder waren am Anfang ihres Geigentrainings stets vollauf begeistert und sie öffneten ihre Herzen. Doch diese Offenheit verflog rasch – aber sie hatten einmal eingewilligt und durften sich dann nicht mehr vom Geigespielen lösen. Denn mit diesem Gerät sollte die besondere Sensibilität dieser Kinder in die gewünschten Bahnen gelenkt werden. Man bediente sich akustischer Impulse (Töne), die von den Kindern selbst hergestellt werden mussten. Sie hatten die Finger ihrer linken Hand und den rechten Arm mit einem ›Bogen‹ in ganz bestimmter Weise zu bewegen, um die gewünschten Frequenzen zu erzeugen. Fixiert wurde mit sogenannten ›Noten‹. Und da die Experten auf diesem Gebiet derart schwierige Übungen vorschrieben, die von den allermeisten Kindern niemals korrekt ausgeführt werden konnten, war der Effekt die gewünschte Demoralisierung und das benötigte Minderwertigkeitsgefühl. Von der steten Unlusterfahrung, in einem hochsensiblen emotionalen Bereich etwas tun zu müssen, was man nicht will, ganz zu schweigen. Und die wenigen Begabten, die das wirklich konnten und gern machten, wurden all den anderen als Norm vorgehalten, und die Unerreichbarkeit dieser Vorbilder steigerte das Gefühl des Versagens.« Nun graust es Ihnen endgültig: Strategie der Demoralisierung? Herzen und Finger der Kinder zwingen? Der Katalog weist über 200 Exponate aus – erst vier haben Sie gesehen. Aber Sie brauchen Licht und Luft und sind froh, als Sie das Schild »Ausgang« sehen: Nichts wie raus hier!
Draußen setzen Sie sich auf eine Bank und blättern im Katalog. Sie halten inne – und mit einem entschlossenen »Nein« werfen Sie den Katalog in den Papierkorb. »Banause« hören Sie jemanden rufen. Sie lächeln zurück.
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Von Schule und Menschenrechten
1. Zwangssystem Schule
Sind Kinder richtige Menschen oder müssen sie sich mit Hilfe der Erwachsenen und der Schule erst dazu entwickeln? Je nachdem, wie man in dieser Frage Position bezieht, ergeben sich sehr unterschiedliche Sichtweisen von der Schule. Ich bin der Auffassung, dass Kinder, d. h. junge Menschen, von Anfang an vollwertige Menschen sind. Dass sie den erwachsenen Menschen gleichwertig sind und dass sie den erwachsenen Menschen auch gleichberechtigt sein sollten. Alle Grund- und Menschenrechte sollten uneingeschränkt auch für Kinder gelten.
Kinder werden in einer pädagogischen Gesellschaft jedoch nicht als vollwertige Menschen angesehen und ihnen werden die Grund- und Menschenrechte nicht uneingeschränkt zuerkannt. Dies gilt auch für die Schule, auch dort wird das Selbstbestimmungsrecht des Kindes nicht anerkannt. Den Kindern werden in der Schule aber nicht nur Rechte vorenthalten, sondern sie sind zusätzlich noch spezifischen Zwängen unterworfen, Zwängen, die jede pädagogisch definierte Schule charakterisieren. Dies sind vor allem der Lernzwang, der Aufenthaltszwang und der Beurteilungszwang. Hinzu kommen unzählige »kleine« Zwänge, die durch das Herrschaftsverhältnis Lehrer – Schüler unvermeidbar entstehen. Diesem Zwangssystem Schule sind die Kinder ausgeliefert, und zwar sowohl rechtlich als auch faktisch – weil letztlich die körperliche Überlegenheit der Erwachsenen entscheidet. Sowie psychisch – durch den moralischen Anspruch, dass die Schule richtig und gut für Kinder sei.
Das mit körperlicher Macht und dem Anspruch auf Richtigkeit daherkommende, die Grund- und Menschenrechte missachtende Zwangssystem Schule bedeutet für junge Menschen ungeheures, ein Kinderleben lang dauerndes Leid und konkrete Menschenrechtsverletzung.
2. Lernzwang – Menschen werden zum Lernen gezwungen
Der Lernzwang missachtet generell das Recht jedes Menschen auf Selbstbestimmung und das »Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit« (Artikel 2 des Grundgesetzes).
Der Lernzwang missachtet das Recht jedes Menschen, über seine Gedanken selbst zu verfügen. Kinder dürfen von ihren Gedanken nicht freien Gebrauch machen. Sie dürfen nicht denken, was sie wollen, sondern müssen denken, was sie sollen. Sie müssen sich mit dem vorgeschriebenen Unterrichtsstoff beschäftigen. Und sie müssen ihren intellektuellen und intuitiven Fähigkeiten immer wieder solange Gewalt antun, bis der Stoff sitzt und das jeden freien Gedanken abtötende Auswendiggelernte im Schlaf wiedergegeben werden kann. Gedankenfreiheit gibt es für Kinder in der Schule nicht.
Der Lernzwang missachtet das Recht jedes Menschen, selbst zu entscheiden, was er lernen möchte. In der Schule wird dieses Recht mit pädagogischen und psychologischen Mitteln unterdrückt. Das Lernen in der Schule ist zum Inbegriff des Lernens von Kindern überhaupt geworden. Das tatsächliche Lernen ist jedoch das von innen kommende, das selbstbestimmte Lernen. Das Schullernen hat das selbstbestimmte Lernen des Kindes aus dem Blick gerückt und es entwertet. Das Schullernen verleidet wegen seines Zwangscharakters jungen Menschen die Entfaltung ihrer Lernfähigkeit. Die Kinder setzen ihre Kraft gegen den Zwang ein, etwas lernen zu müssen – bis ihnen »Lernen« überhaupt verhasst wird.
Der Lernzwang hat grundsätzlich das Rechtsbewusstsein und das Rechtsgefühl zerstört, selbst bestimmen zu können, was man lernen will. Es wird nicht nur das Recht auf Gedankenfreiheit und das Recht auf selbstbestimmtes Lernen missachtet, sondern es verkümmern auch das Wissen, das Bewusstsein und das Gefühl dafür, dass einem diese Rechte zustehen und wie sie sich ausüben lassen. Rechte sind abstrakte juristische Gebilde, sie benötigen stets eine innere Resonanz in den Menschen, um realisiert zu werden. Diese psychologische Seite des Rechts wird zerstört. Kinder wissen und fühlen mit der Zeit nicht mehr, dass ihnen durch den Lernzwang Unrecht getan wird. Statt dessen lernen sie durch die tägliche alternativlose Präsenz des Lernzwangs, dass es richtig ist, wenn andere ihnen in Sachen Gedankenfreiheit und Lernen Vorschriften machen. Dagegen opponieren sie zwar während der gesamten Schulzeit aufgrund des tiefverwurzelten Gefühls vom Recht auf die eigenen Gedanken und vom eigenen Wert. Aber diese Opposition und Verweigerung ist kraftlos und voller Schuldgefühle und hat auch für sie selbst den Charakter von Destruktion und Unwilligkeit, statt dass sie stolz, mit Selbstverständlichkeit und ungebrochenem Elan den Mächtigen des Lernkartells ihr »Nein – ich, meine Gedanken und mein Lernen gehören mir!« entgegenschleudern.
Der Lernzwang führt zu vielfältiger Demütigung, Beleidigung und Nötigung und somit zu offener oder verdeckter Missachtung der Menschenwürde. Denn der Lernzwang ist nicht nur ein konstitutionelles Element der Schule, sondern er wird auch jeden Tag konkret praktiziert und ist Alltagsrealität eines jeden Kindes. Jeder Lehrer ist verpflichtet, den Lernerfolg herbeizuführen, und dies ist bei einem auf Zwang beruhenden Lernen nur mit Zwangsmitteln zu erreichen. Diese Zwangsmittel erstrecken sich von althergebrachtem körperlichen Zwang und offener Bedrohung bis hin zu raffinierten pädagogischen Methoden und psychologischen Tricks wie Freiarbeit, Partnerarbeit, Wochenplan, Projektunterricht, demokratisch-partnerschaftlicher Unterrichtsstil, Ich-Botschaften, Rollenspiel, Kreisgespräch, Lehrer-Schüler-Konferenz, Aussprache, Selbsteinsicht, Sternchenstempel und vieles mehr.
Der Lernzwang schiebt sich sowohl prinzipiell als auch durch seine Zwangsmittel vor das Grundgesetz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Der Artikel 1 des Grundgesetzes kann in der Zwangsschule von einem Lehrer in seiner Alltagspraxis – dann, wenn er den Lernzwang konkret an realen Kindern ausübt – nicht zur Richtschnur seines Handelns gemacht werden. Obwohl er als Teil der staatlichen Gewalt hierzu eindeutig verpflichtet ist.
Der Lernzwang führt zur Missachtung des Rechts auf freie Meinungsäußerung. In der Schule können Kinder nicht ihre Meinung frei sagen – sondern nur insoweit, wie es dem Unterricht dient. »Jeder hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern«: Der Grundgesetzartikel 5 gilt nicht für Kinder. Wenn Kinder von ihrem Recht nach Artikel 5 Gebrauch machen, wird dies als »Geschwätz« oder »Lärm« diffamiert und mit verbaler oder psychischer Gewalt unterbunden, statt zu erkennen, dass das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung jederzeit und auch lautstark ausgeübt werden kann. Der Lernzwang führt zu täglichem Kampf um diesen Grundgesetzartikel, und er reibt als Lärmkrieg Erwachsene und Kinder auf.
Der Lernzwang hat in seinem Gefolge das ununterbrochene und in tausend Nuancen wuchernde Beiseitewischen des Rechts über seinen Körper selbst zu bestimmen: »Setz dich! Steh auf! Steh still! ...« Im Grundgesetzartikel 2 ist dieses Recht eindeutig zum Ausdruck gebracht: »Jeder hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit.« Doch es vergeht kein Tag ohne die Verletzung dieses Rechts, das für junge Menschen grundlegend und identitätsstiftend ist, da sie sich lange Zeit noch nah an ihrer Körperlichkeit erleben. Das Gefühl, ausgeliefert, wehrlos und Objekt zu sein wächst dadurch wie ein Krebsgeschwür in den Kindern.
Der Lernzwang bedeutet auch Aufenthaltszwang und führt zu Freiheitsberaubung im Teilzeitgefängnis Schule. Kinder werden von den eigenen Eltern zum Lernen in die Schule geschafft, und ihre persönliche Anwesenheit wird notfalls mit Polizeigewalt hergestellt. Dies steht in eklatantem Widerspruch zum Grundgesetzartikel 2: »Die Freiheit der Person ist unverletzlich.« Vor allem aber bewirkt der Lernzwang hier einen katastrophalen Vertrauensverlust zwischen Kindern und Eltern: Die Menschen, die Sicherheit und Trost für die Kinder bedeuten, ihre Eltern, treiben sie Morgen für Morgen aus dem Bett und aus dem Haus, dorthin, wo ihre Würde, ihre Rechte und ihr Selbstwertgefühl missachtet werden. So etwas geht nicht sanft über die Bühne, und die Verzweiflung der im Stich gelassenen Kinder verfinstert Tag für Tag die Morgensonne.
3. Beurteilungszwang – Menschen werden Beurteilungen unterworfen
Der Beurteilungszwang beinhaltet zunächst die Aufspaltung von Eigenschaften und Fähigkeiten des Kindes in solche, die »schulgeeignet« und »schulwertvoll« sind und in solche, die es nicht sind. Diese Aufteilung führt jeder Lehrer anhand von formellen und informellen Kriterien durch. Die »schulgeeigneten« Persönlichkeitsteile werten durch ihre Bevorzugung die anderen ab, lassen sie ein Schattendasein führen oder werden von den Kindern völlig überzogen ins Spiel gebracht, als Reaktion auf die Störung ihrer inneren Balance. Die Spaltung ihrer Persönlichkeit ist von den Kindern selbstverständlich nicht gewollt und ein Unding an sich und hat heftige negative Auswirkungen auf ihre gesamte gesunde psychische Entwicklung.
Von der Schule gebraucht und durch den Beurteilungszwang eingefordert werden: Aufmerksamsein, Mitarbeiten, Antworten, Fragen, Ordentlichsein, Umsetzenkönnen von Anweisungen, lernstofforientiertes Nachdenken, Singen nach Vorgabe und Noten, Nachsprechen, Auswendiglernen, Vorführen, Kreativsein im schulischen Sinne, Leibesübungen vollziehen, und, und, und. Alle diese Verhaltensweisen werden sodann beurteilt, und die Kinder haben sich diesen Beurteilungen zu unterwerfen. Selbst wenn einzelne Beurteilungen in Frage gestellt werden – nicht in Frage gestellt wird, dass überhaupt beurteilt wird, nicht erkannt wird, dass die unerbetenen Beurteilungen ein schwerwiegender Eingriff in die Persönlichkeit des Kindes sind und destruktive Folgen haben. Die Beurteilung des Schülers durch den Lehrer lastet als unreflektierter und tabuisierter Zwang auf jedem Kind. Mit dem Anspruch unabdingbarer Notwendigkeit gibt es Lob und Tadel bei allem und jedem.
Der Beurteilungszwang zerstört positive Beziehungen und bewirkt, dass zwischen Lehrern und Schülern Misstrauen und Angst herrschen. Die von Zwangsbeurteilungen geprägte Beziehung enthält aufseiten der Kinder Betrug und Lüge, um gute Beurteilungen zu erhalten, aufseiten der Lehrer Misstrauen und Herrschaft.
Der Beurteilungszwang zerstört das Selbstwertgefühl der Kinder, denn sie erfahren jahrelang, dass sie nicht Wert an sich haben, sondern nur beim Erfüllen von schulischen Anforderungen, und dass ihre nicht »schulgeeigneten« Eigenschaften nichts wert sind. Außerdem verlernen sie, sich selbst zu beurteilen und ihre Möglichkeiten und Grenzen selbst und realistisch einzuschätzen.
Der Beurteilungszwang macht die Kinder im Fall von guten Beurteilungen abhängig vom Lehrer und schleust sie in die Bahn devoter Unterordnung. Im Fall von schlechten Beurteilungen treibt der Beurteilungszwang die Kinder in Angst, Verzweiflung bis hin zu Selbstmord.
Der Beurteilungszwang zerstört die positive Familiensituation. Denn die Eltern wollen, daß ihre Kinder gute Beurteilungen nach Hause bringen. Eltern mit solchen Erwartungen werden von den Kindern erneut nicht als auf ihrer Seite stehend erfahren. Die Kinder erleben die Eltern als Verbündete der Schule, sie fühlen sich verraten und nicht mehr geliebt. Die Familie verliert durch den Beurteilungszwang ihre Schutz- und Unterstützungsfunktion.
4. Schule – Zerstörung der Lernfähigkeit
Die Schule verhindert durch die Missachtung der Menschenrechte und die daraus resultierenden Zwänge, daß die Lernressourcen der nachwachsenden Generation erkannt und fruchtbar gemacht werden – Ressourcen, die in den Menschen angelegt sind und die von der Menschheit heute dringender denn je zum Überleben benötigt werden. Die Kraft der Kinder ist im Abwehrkampf gegen den Lern-, Beurteilungs- und Aufenthaltszwang und die vielfältigen »kleinen« Zwänge gebunden. Erwachsene werden in diesem Kampf aufgerieben, und ihre hilfreichen Fähigkeiten zur Unterstützung der Kinder und Entfaltung ihrer Lernfähigkeit können nicht genutzt werden. Neben der Unmenge Leid, die dadurch bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen, hervorgerufen wird, sind die Leistungen dieser auf Zwang beruhenden Schule äußerst gering. Die heutige Schule ist somit gleichzusetzen mit der Zerstörung der Lernfähigkeit der nachwachsenden Generation und mit der Schädigung der Zukunft. Dies ist zu ändern!
Schule: Vergangenheit
Kinder müssen zur Schule, sonst lernen sie nichts. Die Anmaßung und Menschenrechtsverletzung, die ein solcher Satz enthält, ist schwer zu erkennen und schwer zu erfühlen. Und doch kommt es gerade darauf an. Wie könnte es gelingen, das Nicht-mehr-Erkennen und das Nicht-mehr-Fühlen zu überwinden? Das folgende Bild soll helfen, die verlorengegangene Sensibilität für die Würde des jungen Menschen und sein Recht auf selbstbestimmtes Lernen wiederzufinden.
Vergangenheit, 1880–1999
New Mexico, im Sommer 1999. Sie machen Ferien in Amerika. Und da Sie sich schon immer für die indianische Kultur interessiert haben, besuchen Sie die Navajos in der Four-Corners-Region und halten sich nun schon drei Wochen bei ihnen auf, in der Reservation am Mount Taylor. Sie haben viel gesehen und unternommen und neue Freunde gewonnen.
Eines Tages fragt Sie Ihr indianischer Freund Tatanga, ob Sie sich nicht einmal das Museum anschauen wollen. »Ihr habt ein Museum? Klar, das interessiert mich!« Sie sind gespannt und erwarten neue Einblicke in die Lebenswelt der Indianer.
Nach einer Weile Fahrt durch die faszinierende Landschaft kommen Sie zu einem schlichten Holzhaus. Es ist schon älter, wirkt aber gepflegt. Niemand ist da, der Sie und Ihren Freund begrüßt, aber die Tür ist offen, und Sie gehen hinein. Der Raum, den Sie zunächst betreten, sieht wie das Klassenzimmer einer Schule aus. Bänke, Stühle, eine Tafel, einige Bücher. Wahrscheinlich werden hier Vorträge zur Geschichte der Indianer gehalten. Nach einem kurzen Blick in die Runde wollen Sie den Raum verlassen, denn es gibt nichts besonderes zu sehen. Aber Tatanga macht keine Anstalten hinauszugehen. Er steht mit ernstem Gesicht in der Nähe der Tafel und sieht aus dem Fenster. »Lass uns hier weggehen, das ist doch nur der Raum für Vorträge. Wo sind die Exponate?«, sagen Sie. Doch Ihr Freund verzieht keine Mine und rührt sich nicht. »Was ist los?«, fragen Sie. »Wir sind im Museum«, sagt er. »Na klar«, antworten Sie, »aber hier ist doch nichts. Zeig mir die richtigen Räume.«
Tatanga dreht sich zu Ihnen um und sieht Sie voll an. »Du bist im Museum. Es ist hier, dieses Haus, auch dieser Raum. Unser Museum ist eine Schule.« »Wieso – eine Schule?« Sie sind enttäuscht. Was ist an einer Schule interessant? Ihr Gesicht spiegelt Unverständnis. Tatanga lächelt. »Ich weiß, dass du jetzt enttäuscht bist. Aber dies hier ist wirklich unser Museum. Weißt du, in diesem Haus wurden die Eltern meiner Großeltern, meine Großeltern und auch noch meine Eltern unterrichtet. Von weißen Missionaren und Lehrern. Sie sollten ›zivilisiert‹ werden. Mit eurer Kultur. Mit eurer Denkweise. Sie mussten eure Buchstaben lernen. Eure Art, die Welt zu sehen. Ihre kulturelle Identität – ihre Persönlichkeit ...« Er schweigt, und dann sagt er leise: »Zumindest haben sie es versucht.«
Sie stürzen in einen Strudel voller Gefühle. Ihr abstraktes Wissen vom kulturellen Imperialismus der Weißen wird hier konkret, an diesem Ort: Hier, in diesem Raum fand das alles statt. Die Präsenz dieser Ungeheuerlichkeit nimmt Ihnen den Atem. Empörung, Wut, Hilflosigkeit und tiefe Scham branden auf. Sie fühlen das Leid, das Entsetzen, die Ohnmacht dieser Menschen. Sie hören die Kommandos der Lehrer, das unbeugsame leise und laute Nein der Kinder, die verzweifelten Schreie der Mütter, denen die Kinder von den Soldaten aus den Zelten gerissen werden, und Sie spüren den unendlichen Zorn und die bodenlose Hilflosigkeit der Väter. Sie sehen den Kampf dort und das Niederringen der Seelen hier. Die Brutalität und Demoralisierung dieser »Zivilisierung« springen Sie an. Wie in Trance starren Sie in den Raum, und als Sie endlich zu Tatanga sehen, ist er nicht da. Sie verlassen das Museum, dieses Mahnmal gegen die Unmenschlichkeit, setzen sich unter einen Baum, und überlassen sich erschöpft Ihren Gefühlen. Und Sie verstehen.
Als Sie Welten später aufblicken, sehen Sie die stolzen Indianerkinder von damals vor Ihnen stehen. Sie schauen sich an. Und auf einmal verstehen Sie wirklich: »Das stolze Indianerkind – das bin ja ich!« Tränen schießen Ihnen in die Augen. »Auch ich wurde in ein solches Haus geschafft. Auch vor mir stand ein Lehrer. Auch ich wurde gebeugt und gebeugt und gebeugt. Subjekt, Prädikat, Objekt. (a + b) · (a + b). Schule. Jeden Tag.« Und Sie halten sich selbst fest. Ganz fest.
Vergangenheit, 1880–1999
New Mexico, im Sommer 1999. Sie machen Ferien in Amerika. Und da Sie sich schon immer für die indianische Kultur interessiert haben, besuchen Sie die Navajos in der Four-Corners-Region und halten sich nun schon drei Wochen bei ihnen auf, in der Reservation am Mount Taylor. Sie haben viel gesehen und unternommen und neue Freunde gewonnen.
Eines Tages fragt Sie Ihr indianischer Freund Tatanga, ob Sie sich nicht einmal das Museum anschauen wollen. »Ihr habt ein Museum? Klar, das interessiert mich!« Sie sind gespannt und erwarten neue Einblicke in die Lebenswelt der Indianer.
Nach einer Weile Fahrt durch die faszinierende Landschaft kommen Sie zu einem schlichten Holzhaus. Es ist schon älter, wirkt aber gepflegt. Niemand ist da, der Sie und Ihren Freund begrüßt, aber die Tür ist offen, und Sie gehen hinein. Der Raum, den Sie zunächst betreten, sieht wie das Klassenzimmer einer Schule aus. Bänke, Stühle, eine Tafel, einige Bücher. Wahrscheinlich werden hier Vorträge zur Geschichte der Indianer gehalten. Nach einem kurzen Blick in die Runde wollen Sie den Raum verlassen, denn es gibt nichts besonderes zu sehen. Aber Tatanga macht keine Anstalten hinauszugehen. Er steht mit ernstem Gesicht in der Nähe der Tafel und sieht aus dem Fenster. »Lass uns hier weggehen, das ist doch nur der Raum für Vorträge. Wo sind die Exponate?«, sagen Sie. Doch Ihr Freund verzieht keine Mine und rührt sich nicht. »Was ist los?«, fragen Sie. »Wir sind im Museum«, sagt er. »Na klar«, antworten Sie, »aber hier ist doch nichts. Zeig mir die richtigen Räume.«
Tatanga dreht sich zu Ihnen um und sieht Sie voll an. »Du bist im Museum. Es ist hier, dieses Haus, auch dieser Raum. Unser Museum ist eine Schule.« »Wieso – eine Schule?« Sie sind enttäuscht. Was ist an einer Schule interessant? Ihr Gesicht spiegelt Unverständnis. Tatanga lächelt. »Ich weiß, dass du jetzt enttäuscht bist. Aber dies hier ist wirklich unser Museum. Weißt du, in diesem Haus wurden die Eltern meiner Großeltern, meine Großeltern und auch noch meine Eltern unterrichtet. Von weißen Missionaren und Lehrern. Sie sollten ›zivilisiert‹ werden. Mit eurer Kultur. Mit eurer Denkweise. Sie mussten eure Buchstaben lernen. Eure Art, die Welt zu sehen. Ihre kulturelle Identität – ihre Persönlichkeit ...« Er schweigt, und dann sagt er leise: »Zumindest haben sie es versucht.«
Sie stürzen in einen Strudel voller Gefühle. Ihr abstraktes Wissen vom kulturellen Imperialismus der Weißen wird hier konkret, an diesem Ort: Hier, in diesem Raum fand das alles statt. Die Präsenz dieser Ungeheuerlichkeit nimmt Ihnen den Atem. Empörung, Wut, Hilflosigkeit und tiefe Scham branden auf. Sie fühlen das Leid, das Entsetzen, die Ohnmacht dieser Menschen. Sie hören die Kommandos der Lehrer, das unbeugsame leise und laute Nein der Kinder, die verzweifelten Schreie der Mütter, denen die Kinder von den Soldaten aus den Zelten gerissen werden, und Sie spüren den unendlichen Zorn und die bodenlose Hilflosigkeit der Väter. Sie sehen den Kampf dort und das Niederringen der Seelen hier. Die Brutalität und Demoralisierung dieser »Zivilisierung« springen Sie an. Wie in Trance starren Sie in den Raum, und als Sie endlich zu Tatanga sehen, ist er nicht da. Sie verlassen das Museum, dieses Mahnmal gegen die Unmenschlichkeit, setzen sich unter einen Baum, und überlassen sich erschöpft Ihren Gefühlen. Und Sie verstehen.
Als Sie Welten später aufblicken, sehen Sie die stolzen Indianerkinder von damals vor Ihnen stehen. Sie schauen sich an. Und auf einmal verstehen Sie wirklich: »Das stolze Indianerkind – das bin ja ich!« Tränen schießen Ihnen in die Augen. »Auch ich wurde in ein solches Haus geschafft. Auch vor mir stand ein Lehrer. Auch ich wurde gebeugt und gebeugt und gebeugt. Subjekt, Prädikat, Objekt. (a + b) · (a + b). Schule. Jeden Tag.« Und Sie halten sich selbst fest. Ganz fest.
Schule: 29. Januar 2014, 10.03 Uhr
Deutscharbeit in der Klasse 8c. Aufsatz. Angespannte Ruhe liegt über den jungen Leuten. Ein Stuhl wird gerückt. Der Lehrer blickt auf. Ein Schüler ist aufgestanden. »Was ist los, Kilian?« Alle sehen jetzt auf. Der Schüler sieht zufrieden aus. Er schaut zur Tafel, durch sie hindurch. »Kilian, was ist?« Leicht irritiert steht der Lehrer auf. »Ich schreibe nicht weiter.« »Bitte?« »Ich schreibe nicht weiter. Nie mehr. Ich schreibe keine Aufsätze mehr.« Nach einer Sekunde absoluter Stille wird es sehr unruhig. »Seid still!« Der Lehrer wird energisch. »Lass den Quatsch und setz dich. Schreib weiter.« Kilian richtet sich ganz auf. Er sieht den Lehrer an. »Sie haben kein Recht dazu. Meine Gedanken gehören mir. Niemand hat das Recht, meine Gedanken auf sein Papier zu befehlen. Ich werde keine Aufsätze mehr schreiben. Niemals.« Seine Entschlossenheit bewirkt noch einmal absolute Stille im Klassenraum. Dem Lehrer gelingt keine Antwort. Zwei, drei andere junge Leute stehen ebenfalls auf. Sie sagen nichts, sie schließen ihre Hefte. Der Lehrer ist fassungslos, sprachlos. Alle stehen jetzt, alle Hefte sind geschlossen. »Wollen Sie einen Kaffee?« fragt Freya, »ich hole einen.«
Tagesschau: »Überall im Land haben sich heute Vormittag zahlreiche Schüler geweigert, ihre Klassenarbeiten zu schreiben. Lehrer berichteten, dass die Schüler mitten im Unterricht aufstanden und die Fortsetzung ihrer Arbeiten ablehnten. Lehrer, Pädagogen, Psychologen und Eltern können sich diesen Vorgang nicht erklären, zumal es an sehr vielen Orten gleichzeitig gegen 10.00 Uhr vormittags geschah. Die Entschiedenheit der Ablehnung, Klassenarbeiten zu schreiben, kam um so unvermuteter, als es keine Anzeichen für ein solches Phänomen gab.«
Tagesschau: »Überall im Land haben sich heute Vormittag zahlreiche Schüler geweigert, ihre Klassenarbeiten zu schreiben. Lehrer berichteten, dass die Schüler mitten im Unterricht aufstanden und die Fortsetzung ihrer Arbeiten ablehnten. Lehrer, Pädagogen, Psychologen und Eltern können sich diesen Vorgang nicht erklären, zumal es an sehr vielen Orten gleichzeitig gegen 10.00 Uhr vormittags geschah. Die Entschiedenheit der Ablehnung, Klassenarbeiten zu schreiben, kam um so unvermuteter, als es keine Anzeichen für ein solches Phänomen gab.«
Schoolwatch
1. Die Initiative
Im Jahr 2030 gibt es an vielen Schulen Elterninitiativen, die »Schoolwatch« heißen, »Schoolwatch Grundschule Norddorf«, »Schoolwatch Paul-Gerhardt-Schule Südberg«, »Schoolwatch Rosa-Luxemburg-Schule Oststadt«, »Schoolwatch Humboldt-Gymnasium Westhausen«. Die Eltern dieser Initiativen haben sich zusammengefunden, um gemeinsam etwas gegen das Schulleid ihrer Kinder und die Schultraumatisierung zu tun.
Die Schoolwatch-Idee hat sich herumgesprochen, die Medien haben darüber berichtet, in Fachzeitschriften wurden Artikel geschrieben, an den Hochschulen gibt es hierüber Seminare, kurz: aus einer Idee ist eine Bewegung geworden. Es gibt inzwischen Schoolwatch-Landesverbände und den Schoolwatch-Bundesverband und auch im Ausland existieren seit einiger Zeit Schoolwatch-Initiativen. Alle Lehrer kennen Schoolwatch, sie werden bereits in ihrer Ausbildung damit befasst, und die meisten Eltern wissen, dass es so etwas wie Schoolwatch gibt, und viele engagieren sich darin. Und selbstverständlich weiß auch jedes Schulkind von Schoolwatch.
Der Einfluss, der von einer Schoolwatch-Initiative vor Ort auf das Geschehen einer Schule ausgeht, ist unterschiedlich groß und hängt von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Oft wird die Arbeit von Schoolwatch von den Lehrern eines Kollegiums abgelehnt, aber es gibt auch immer wieder Zustimmung und Kooperation. Nichts ist mehr so, wie es einmal war – als es Schoolwatch noch nicht gab. Allen Lehrern ist bewusst, dass sie durch diese Elterninitiativen unter Beobachtung stehen, ob sie es wollen oder nicht. Und auch die Kinder wissen darum, dass Ungerechtigkeiten und Demütigungen im Klassenzimmer nicht mehr als Selbstverständlichkeit des Schulalltags hingenommen werden müssen.
Angefangen hatte es vor 30 Jahren am 29. Januar 2000 – als eine Mutter in einer kleinen Stadt in Deutschland eine besonders drastische Herabsetzung ihres Kindes durch einen Lehrer nicht auf sich beruhen lassen will. Nachdem ein Gespräch mit dem Lehrer und dem Schulleiter nichts bewirkt, bringen die Eltern den Vorfall im Freundeskreis zur Sprache, und man ist sich einig, dass etwas getan werden muss. Die Freunde treffen sich wiederholt, sie diskutieren, machen Vorschläge und verwerfen sie wieder, aber sie sind entschlossen, etwas in Gang zu setzen. Sie entwerfen ein Konzept und gründen eine Initiative gegen die Traumatisierung durch schulische Demütigungen.
Sie überlegen lange, welcher Name für ihre Initiative passt, er soll prägnant und aussagefähig sein. Diskutiert werden »Eltern vor Ort« und »Aktion Schule ohne Angst« und »Verein zur Förderung von Kinderfreundlichkeit an der Schule« und andere Namen. Letztlich entscheiden sie sich für einen Begriff, der von den Kindern, die sie um Rat gefragt haben, bevorzugt wird – denn sie wollen vor allem die Akzeptanz ihrer Initiative durch die Kinder. Sie nennen sich also »Schoolwatch«, in durchaus gewollter Anlehnung an das renommierte Worldwatch-Institut und an Human Rights Watch. Und sie tragen ihre Idee in die Elternabende und werben um Mitstreiter.
Die Eltern erleben vielfältige Widerstände von allen Seiten (die Schultraumatisierung sitzt bei den Menschen tief und fest). Sie bekommen zu hören, dass sie den Schulfrieden stören, dass ihre Arbeit destruktiv sei, dass ein »gläsernes Klassenzimmer« die Persönlichkeitsrechte des Lehrers missachte. Viele Eltern stimmen in den Chor der Kritik ein, befürchten, dass durch diese Ideen das effektive Arbeiten in der Schule behindert wird und sehen den schulischen Erfolg ihrer Kinder gefährdet. Die Eltern der Initiative werden von vielen geschnitten und angefeindet. Aber sie lassen sich nicht beirren. Sie machen sich weiter bekannt und verteilen ihr inzwischen ausformuliertes Schoolwatch-Konzept.
2. Das Konzept
In ihrem Konzept stellen sich die Eltern als eine Gruppe von Menschen vor, die das Leid der Schulkinder auffangen wollen, das durch persönliche Herabsetzung entsteht. Sie setzen sich außerdem zum Ziel, durch Präsenz, zunehmendes Gewicht und Öffentlichkeitsarbeit einen Bewusstseinswandel anzustoßen, so dass Demütigungen im Schulalltag weniger werden. Sie verstehen sich als eine parteiergreifende Instanz, die über die Unantastbarkeit der Würde der Schulkinder wacht. Die Eltern bieten sich in konkreten Situationen – wenn ein Lehrer ein Kind herabsetzt – als Anlaufstelle an. Sie wollen dann zum einen mit dem betreffenden Lehrer ins Gespräch kommen und ihm das Geschehene aus der Sicht des Kindes zeigen. Zum anderen wollen sie dem gedemütigten Kind durch einen Anruf, Besuch oder Brief – den »Schoolwatch-Brief« – beistehen, Trost zusprechen und das Ich des Kindes stützen.
Sie wissen, daß sie nicht im Konsens mit der Schule und der Lehrerschaft sein werden, sondern dass man sie als Ärgernis, ja als Bedrohung auffasst. Doch sie sind von der Wichtigkeit ihres Vorhabens überzeugt und lassen sich nicht aufhalten. Sie wollen von außen in die Schule wirken, denn nur darin sehen sie die Effektivität ihres Engagements gewährleistet, ihre Unabhängigkeit gewahrt, und nur so erwarten sie eine Akzeptanz ihrer Tätigkeit durch die Kinder. Und wenn sie auch von außen kommen, so fühlen sie sich doch sehr wohl als Betroffene und der Schulgemeinde zugehörig. Sie sind dabei, eine anders orientierte Aufgabe für das Wohl der Kinder zu übernehmen, als dies jede Schultradition bislang vorsah. Das alles ist für diese wie für jede andere Schule völlig neu, die Lehrer wehren sich heftig gegen eine Kontrolle durch Eltern. Immer wieder werden die Eltern aufgefordert, die schulischen Gremien einzuschalten, wenn sie Wünsche hätten. Und auch die Drohung der Schulverwaltung, man werde die Gerichte einschalten, um die Störung des Schulfriedens zu unterbinden, schreckt sie nicht. Sie wollen etwas tun, sind entschlossen, risikobereit, lassen sich rechtlich beraten und wollen es darauf ankommen lassen. Und sie erfahren auch Unterstützung von anderen Eltern, auch von anderen Schulen und Städten und von Fachleuten.
Ein halbes Jahr nach dem ersten Treffen steht ihre Initiative, »Schoolwatch Einstein-Gymnasium Kleinstadt« ist ein eingetragener Verein, mit Satzung, Mitgliedern und Vorstand. Sie haben ein kleines Budget, und die Gemeinnützigkeit ist beantragt. Die Eltern haben sich in einen Dienstplan eingeteilt, für den Rest des Jahres ist bereits klar, wer an welchem Tag für die Kinder als Ansprech- und Anrufpartner da ist. Im neuen Schuljahr nach den Sommerferien 2000 sind sie startbereit.
3. Der Schoolwatch-Anruf
Und dann kommt eines nachmittags der erste Anruf: »Herr Meier hat die Jana aus der 6a ausgelacht, als sie eine Antwort in Mathe nicht wusste. Jana hat den Rest der Stunde auf ihrem Platz gesessen und geweint.«
Herr Meier wird von Frau Burger, der dienst habenden Mutter, angerufen. Ihr Anruf hat nicht das Ziel, ihm Vorhaltungen zu machen oder ihn bloßzustellen. Der Anruf soll möglich machen, dass der Lehrer das Vorgefallene mit den Augen des Kindes gezeigt bekommt, dass er hört, wie sein Verhalten bei Jana angekommen ist und gewirkt hat, und dass sein Auslachen aus der Sicht des Kindes und der Eltern von Schoolwatch eine unakzeptable Grenzüberschreitung war.
Es wird kein Vorwurf erhoben und es erfolgt keine Schuldzuweisung. Hierüber wurde bei den konzeptionellen Beratungen lange diskutiert und klar Position bezogen: Auch die Würde eines Lehrers wird geachtet, was immer er tut und was immer gegen sein Verhalten vorgebracht werden kann. Ohne einen Vorwurf zu erheben wird dieser Lehrer aber damit konfrontiert, der Realität – wie sie das Kind erlebt hat – ungeschminkt ins Gesicht zu sehen, und die erlittene Demütigung wird Demütigung und Unrecht genannt. Frau Burger bittet nicht darum, dass Herr Meier sich entschuldigt – so etwas zu erwägen ist ganz und gar seine Sache. Sie überlässt es ihm, ob er am nächsten Tag überhaupt etwas zu Jana sagen will, und was das sein könnte. Ihre einzige Aufgabe im Gespräch mit dem Lehrer ist es, ihn das Vorgefallene mit den Augen des Kindes sehen zu lassen. Und da Herr Meier sich nicht beschimpft und nicht unter Druck gesetzt fühlt, kann er sich für die höflichen, aber sehr wohl eindringlichen Worte der Mutter öffnen und sein Verhalten mit Janas Augen sehen.
Wenn er erklärt, dass er das morgen in Ordnung bringt, und am nächsten Tag auf das Kind zugeht, etwas Freundliches sagt und hinzufügt, dass es ihm leid tut, dann steht der Heilung der seelischen Verletzung von Jana nichts mehr im Wege. Aber wenn Herr Meier das alles weit von sich weist und das Gespräch in Unfrieden endet?
Nun, der Anruf bei Herrn Meier ist nur der eine Teil der Schoolwatch-Aktion. Es soll ja auch Jana angerufen werden – in jedem Fall und unabhängig davon, wie der Lehrer reagiert. Wenn die Eltern der Initiative Jana und ihre Eltern kennen und wissen, dass so ein Anruf nicht zusätzlich belastend wirkt, wird dieses Gespräch geführt. Trost und Mitgefühl sollen ausgesprochen werden, und Janas Belastung kann sich vielleicht in einem erleichterten Lachen lösen.
4. Der Schoolwatch-Brief
Doch meistens werden die Eltern von Schoolwatch das Kind nicht kennen. Und so ist es auch in diesem Fall. Niemand weiß, wie ein Telefonat von fremden Eltern bei Jana (und ihren Eltern) ankommen wird. Dasselbe würde für einen Besuch gelten, der anstelle eines Anrufs auch immer in Erwägung gezogen wird. Doch neben der Möglichkeit, Jana anzurufen oder sie zu besuchen, gibt es ja den Schoolwatch-Brief. Es wird ein Gruß verschickt, ein paar Zeilen, die deutlich machen, dass Jana nicht allein steht und dass es Menschen gibt, die zu ihr halten und die aussprechen, dass das, was passiert ist, Unrecht war.
Ein Anruf oder ein Besuch kommen nur dann in Betracht, wenn das Kind und seine Eltern der Schoolwatch-Gruppe bekannt sind. Dies ist schon Einmischung in persönliche Angelegenheiten genug. Mit einem Brief aber von den unbekannten Eltern der Initiative stellt sich die Frage nach der Einmischung eindringlich: Wie wird der Brief ankommen? Was sind die Risiken und Chancen? Wusste Jana überhaupt etwas von dem Anruf ihrer Freundin bei Schoolwatch? Und wenn sie es wusste, war sie damit einverstanden? Wird Jana den Brief als Anmaßung und Bloßstellung zurückweisen und sich obendrein noch vorgeführt vorkommen? Oder erlebt Jana den Brief als Überraschung, die ihr hilft? Hat sie ihn erwartet, herbeigewünscht, und freut sie sich über dieses Symbol von Zuwendung und Trost?
Die Eltern der Initiative haben eine entschiedene, spezifische Grundposition: Sie sehen die Gleichwertigkeit des Erwachsenen und des Kindes. Sie wissen darum, dass personale Begegnungen auf einer gleichwertigen Basis stets die Chance des Gelingens und das Risiko des Scheiterns enthalten. Sie haben keine pädagogische Absicht bei ihrer Aktion. Sie bieten ihre Hilfe und ihren Trost an, weil sie nicht tatenlos zusehen können, wenn vor ihren Augen Leid geschieht. Und sie wissen darum, dass ihre Intervention sowohl das Leid verringern als auch vergrößern kann. Sie haben sich diesem Dilemma gestellt und sich nach reiflichem Überlegen dafür entschieden, auf jeden Fall einen Versuch zu machen: Auf den gedemütigten Menschen zuzugehen. Hierzu fühlen sie sich um ihrer selbst willen verpflichtet, und es entspricht ihrer Vorstellung von Mitmenschlichkeit. Der Schoolwatch-Brief wird also von Frau Burger geschrieben und verschickt:
Liebe Jana,
wir haben gehört, dass Dich Herr Meier ausgelacht hat. Wir finden das nicht richtig. Jeder kann mal eine Antwort nicht wissen, auch in Mathe. Es tut uns leid, was Dir da passiert ist. Ruf uns an, wenn Du willst. Wir stehen auf Deiner Seite.
Herzliche Grüße!
Reinhilde Burger von Schoolwatch
Wenn Jana den Schoolwatch-Brief ablehnt, wird ihr Leid vergrößert. Wenn sie jedoch einschwingt, kann sich ihre Belastung verringern. Bei diesem ersten Brief im Jahr 2000 waren sich alle Eltern der Initiative dieses Risikos bewusst. Würde ihr Brief helfen? Nun, Jana hatte sich gefreut, den Brief ihrer Freundin gezeigt und Frau Burger am nächsten Tag angerufen.
Die erste Intervention von Schoolwatch im September 2000 war ein Erfolg – und zigtausende solcher gelungenen Einmischungen sind seitdem geschehen. Die Briefe, Anrufe und Besuche von Schoolwatch sind eine feste Komponente im Schulleben geworden, von den Kindern heiß herbeigewünscht und immer voller Trost und heilender Wirkung. Die Anfangsschwierigkeiten sind heute längst überwunden, Schoolwatch ist renommiert und hat sich zu einer wirksamen Kraft gegen das Schulleid entwickelt. Und auch immer mehr Lehrer akzeptieren Schoolwatch – das Konzept von Schoolwatch, den Lehrern die Wahrheit der Kinder ohne Herabsetzung und Anschuldigung nahezubringen, ist aufgegangen.
Im Jahr 2030 gibt es an vielen Schulen Elterninitiativen, die »Schoolwatch« heißen, »Schoolwatch Grundschule Norddorf«, »Schoolwatch Paul-Gerhardt-Schule Südberg«, »Schoolwatch Rosa-Luxemburg-Schule Oststadt«, »Schoolwatch Humboldt-Gymnasium Westhausen«. Die Eltern dieser Initiativen haben sich zusammengefunden, um gemeinsam etwas gegen das Schulleid ihrer Kinder und die Schultraumatisierung zu tun.
Die Schoolwatch-Idee hat sich herumgesprochen, die Medien haben darüber berichtet, in Fachzeitschriften wurden Artikel geschrieben, an den Hochschulen gibt es hierüber Seminare, kurz: aus einer Idee ist eine Bewegung geworden. Es gibt inzwischen Schoolwatch-Landesverbände und den Schoolwatch-Bundesverband und auch im Ausland existieren seit einiger Zeit Schoolwatch-Initiativen. Alle Lehrer kennen Schoolwatch, sie werden bereits in ihrer Ausbildung damit befasst, und die meisten Eltern wissen, dass es so etwas wie Schoolwatch gibt, und viele engagieren sich darin. Und selbstverständlich weiß auch jedes Schulkind von Schoolwatch.
Der Einfluss, der von einer Schoolwatch-Initiative vor Ort auf das Geschehen einer Schule ausgeht, ist unterschiedlich groß und hängt von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Oft wird die Arbeit von Schoolwatch von den Lehrern eines Kollegiums abgelehnt, aber es gibt auch immer wieder Zustimmung und Kooperation. Nichts ist mehr so, wie es einmal war – als es Schoolwatch noch nicht gab. Allen Lehrern ist bewusst, dass sie durch diese Elterninitiativen unter Beobachtung stehen, ob sie es wollen oder nicht. Und auch die Kinder wissen darum, dass Ungerechtigkeiten und Demütigungen im Klassenzimmer nicht mehr als Selbstverständlichkeit des Schulalltags hingenommen werden müssen.
Angefangen hatte es vor 30 Jahren am 29. Januar 2000 – als eine Mutter in einer kleinen Stadt in Deutschland eine besonders drastische Herabsetzung ihres Kindes durch einen Lehrer nicht auf sich beruhen lassen will. Nachdem ein Gespräch mit dem Lehrer und dem Schulleiter nichts bewirkt, bringen die Eltern den Vorfall im Freundeskreis zur Sprache, und man ist sich einig, dass etwas getan werden muss. Die Freunde treffen sich wiederholt, sie diskutieren, machen Vorschläge und verwerfen sie wieder, aber sie sind entschlossen, etwas in Gang zu setzen. Sie entwerfen ein Konzept und gründen eine Initiative gegen die Traumatisierung durch schulische Demütigungen.
Sie überlegen lange, welcher Name für ihre Initiative passt, er soll prägnant und aussagefähig sein. Diskutiert werden »Eltern vor Ort« und »Aktion Schule ohne Angst« und »Verein zur Förderung von Kinderfreundlichkeit an der Schule« und andere Namen. Letztlich entscheiden sie sich für einen Begriff, der von den Kindern, die sie um Rat gefragt haben, bevorzugt wird – denn sie wollen vor allem die Akzeptanz ihrer Initiative durch die Kinder. Sie nennen sich also »Schoolwatch«, in durchaus gewollter Anlehnung an das renommierte Worldwatch-Institut und an Human Rights Watch. Und sie tragen ihre Idee in die Elternabende und werben um Mitstreiter.
Die Eltern erleben vielfältige Widerstände von allen Seiten (die Schultraumatisierung sitzt bei den Menschen tief und fest). Sie bekommen zu hören, dass sie den Schulfrieden stören, dass ihre Arbeit destruktiv sei, dass ein »gläsernes Klassenzimmer« die Persönlichkeitsrechte des Lehrers missachte. Viele Eltern stimmen in den Chor der Kritik ein, befürchten, dass durch diese Ideen das effektive Arbeiten in der Schule behindert wird und sehen den schulischen Erfolg ihrer Kinder gefährdet. Die Eltern der Initiative werden von vielen geschnitten und angefeindet. Aber sie lassen sich nicht beirren. Sie machen sich weiter bekannt und verteilen ihr inzwischen ausformuliertes Schoolwatch-Konzept.
2. Das Konzept
In ihrem Konzept stellen sich die Eltern als eine Gruppe von Menschen vor, die das Leid der Schulkinder auffangen wollen, das durch persönliche Herabsetzung entsteht. Sie setzen sich außerdem zum Ziel, durch Präsenz, zunehmendes Gewicht und Öffentlichkeitsarbeit einen Bewusstseinswandel anzustoßen, so dass Demütigungen im Schulalltag weniger werden. Sie verstehen sich als eine parteiergreifende Instanz, die über die Unantastbarkeit der Würde der Schulkinder wacht. Die Eltern bieten sich in konkreten Situationen – wenn ein Lehrer ein Kind herabsetzt – als Anlaufstelle an. Sie wollen dann zum einen mit dem betreffenden Lehrer ins Gespräch kommen und ihm das Geschehene aus der Sicht des Kindes zeigen. Zum anderen wollen sie dem gedemütigten Kind durch einen Anruf, Besuch oder Brief – den »Schoolwatch-Brief« – beistehen, Trost zusprechen und das Ich des Kindes stützen.
Sie wissen, daß sie nicht im Konsens mit der Schule und der Lehrerschaft sein werden, sondern dass man sie als Ärgernis, ja als Bedrohung auffasst. Doch sie sind von der Wichtigkeit ihres Vorhabens überzeugt und lassen sich nicht aufhalten. Sie wollen von außen in die Schule wirken, denn nur darin sehen sie die Effektivität ihres Engagements gewährleistet, ihre Unabhängigkeit gewahrt, und nur so erwarten sie eine Akzeptanz ihrer Tätigkeit durch die Kinder. Und wenn sie auch von außen kommen, so fühlen sie sich doch sehr wohl als Betroffene und der Schulgemeinde zugehörig. Sie sind dabei, eine anders orientierte Aufgabe für das Wohl der Kinder zu übernehmen, als dies jede Schultradition bislang vorsah. Das alles ist für diese wie für jede andere Schule völlig neu, die Lehrer wehren sich heftig gegen eine Kontrolle durch Eltern. Immer wieder werden die Eltern aufgefordert, die schulischen Gremien einzuschalten, wenn sie Wünsche hätten. Und auch die Drohung der Schulverwaltung, man werde die Gerichte einschalten, um die Störung des Schulfriedens zu unterbinden, schreckt sie nicht. Sie wollen etwas tun, sind entschlossen, risikobereit, lassen sich rechtlich beraten und wollen es darauf ankommen lassen. Und sie erfahren auch Unterstützung von anderen Eltern, auch von anderen Schulen und Städten und von Fachleuten.
Ein halbes Jahr nach dem ersten Treffen steht ihre Initiative, »Schoolwatch Einstein-Gymnasium Kleinstadt« ist ein eingetragener Verein, mit Satzung, Mitgliedern und Vorstand. Sie haben ein kleines Budget, und die Gemeinnützigkeit ist beantragt. Die Eltern haben sich in einen Dienstplan eingeteilt, für den Rest des Jahres ist bereits klar, wer an welchem Tag für die Kinder als Ansprech- und Anrufpartner da ist. Im neuen Schuljahr nach den Sommerferien 2000 sind sie startbereit.
3. Der Schoolwatch-Anruf
Und dann kommt eines nachmittags der erste Anruf: »Herr Meier hat die Jana aus der 6a ausgelacht, als sie eine Antwort in Mathe nicht wusste. Jana hat den Rest der Stunde auf ihrem Platz gesessen und geweint.«
Herr Meier wird von Frau Burger, der dienst habenden Mutter, angerufen. Ihr Anruf hat nicht das Ziel, ihm Vorhaltungen zu machen oder ihn bloßzustellen. Der Anruf soll möglich machen, dass der Lehrer das Vorgefallene mit den Augen des Kindes gezeigt bekommt, dass er hört, wie sein Verhalten bei Jana angekommen ist und gewirkt hat, und dass sein Auslachen aus der Sicht des Kindes und der Eltern von Schoolwatch eine unakzeptable Grenzüberschreitung war.
Es wird kein Vorwurf erhoben und es erfolgt keine Schuldzuweisung. Hierüber wurde bei den konzeptionellen Beratungen lange diskutiert und klar Position bezogen: Auch die Würde eines Lehrers wird geachtet, was immer er tut und was immer gegen sein Verhalten vorgebracht werden kann. Ohne einen Vorwurf zu erheben wird dieser Lehrer aber damit konfrontiert, der Realität – wie sie das Kind erlebt hat – ungeschminkt ins Gesicht zu sehen, und die erlittene Demütigung wird Demütigung und Unrecht genannt. Frau Burger bittet nicht darum, dass Herr Meier sich entschuldigt – so etwas zu erwägen ist ganz und gar seine Sache. Sie überlässt es ihm, ob er am nächsten Tag überhaupt etwas zu Jana sagen will, und was das sein könnte. Ihre einzige Aufgabe im Gespräch mit dem Lehrer ist es, ihn das Vorgefallene mit den Augen des Kindes sehen zu lassen. Und da Herr Meier sich nicht beschimpft und nicht unter Druck gesetzt fühlt, kann er sich für die höflichen, aber sehr wohl eindringlichen Worte der Mutter öffnen und sein Verhalten mit Janas Augen sehen.
Wenn er erklärt, dass er das morgen in Ordnung bringt, und am nächsten Tag auf das Kind zugeht, etwas Freundliches sagt und hinzufügt, dass es ihm leid tut, dann steht der Heilung der seelischen Verletzung von Jana nichts mehr im Wege. Aber wenn Herr Meier das alles weit von sich weist und das Gespräch in Unfrieden endet?
Nun, der Anruf bei Herrn Meier ist nur der eine Teil der Schoolwatch-Aktion. Es soll ja auch Jana angerufen werden – in jedem Fall und unabhängig davon, wie der Lehrer reagiert. Wenn die Eltern der Initiative Jana und ihre Eltern kennen und wissen, dass so ein Anruf nicht zusätzlich belastend wirkt, wird dieses Gespräch geführt. Trost und Mitgefühl sollen ausgesprochen werden, und Janas Belastung kann sich vielleicht in einem erleichterten Lachen lösen.
4. Der Schoolwatch-Brief
Doch meistens werden die Eltern von Schoolwatch das Kind nicht kennen. Und so ist es auch in diesem Fall. Niemand weiß, wie ein Telefonat von fremden Eltern bei Jana (und ihren Eltern) ankommen wird. Dasselbe würde für einen Besuch gelten, der anstelle eines Anrufs auch immer in Erwägung gezogen wird. Doch neben der Möglichkeit, Jana anzurufen oder sie zu besuchen, gibt es ja den Schoolwatch-Brief. Es wird ein Gruß verschickt, ein paar Zeilen, die deutlich machen, dass Jana nicht allein steht und dass es Menschen gibt, die zu ihr halten und die aussprechen, dass das, was passiert ist, Unrecht war.
Ein Anruf oder ein Besuch kommen nur dann in Betracht, wenn das Kind und seine Eltern der Schoolwatch-Gruppe bekannt sind. Dies ist schon Einmischung in persönliche Angelegenheiten genug. Mit einem Brief aber von den unbekannten Eltern der Initiative stellt sich die Frage nach der Einmischung eindringlich: Wie wird der Brief ankommen? Was sind die Risiken und Chancen? Wusste Jana überhaupt etwas von dem Anruf ihrer Freundin bei Schoolwatch? Und wenn sie es wusste, war sie damit einverstanden? Wird Jana den Brief als Anmaßung und Bloßstellung zurückweisen und sich obendrein noch vorgeführt vorkommen? Oder erlebt Jana den Brief als Überraschung, die ihr hilft? Hat sie ihn erwartet, herbeigewünscht, und freut sie sich über dieses Symbol von Zuwendung und Trost?
Die Eltern der Initiative haben eine entschiedene, spezifische Grundposition: Sie sehen die Gleichwertigkeit des Erwachsenen und des Kindes. Sie wissen darum, dass personale Begegnungen auf einer gleichwertigen Basis stets die Chance des Gelingens und das Risiko des Scheiterns enthalten. Sie haben keine pädagogische Absicht bei ihrer Aktion. Sie bieten ihre Hilfe und ihren Trost an, weil sie nicht tatenlos zusehen können, wenn vor ihren Augen Leid geschieht. Und sie wissen darum, dass ihre Intervention sowohl das Leid verringern als auch vergrößern kann. Sie haben sich diesem Dilemma gestellt und sich nach reiflichem Überlegen dafür entschieden, auf jeden Fall einen Versuch zu machen: Auf den gedemütigten Menschen zuzugehen. Hierzu fühlen sie sich um ihrer selbst willen verpflichtet, und es entspricht ihrer Vorstellung von Mitmenschlichkeit. Der Schoolwatch-Brief wird also von Frau Burger geschrieben und verschickt:
Liebe Jana,
wir haben gehört, dass Dich Herr Meier ausgelacht hat. Wir finden das nicht richtig. Jeder kann mal eine Antwort nicht wissen, auch in Mathe. Es tut uns leid, was Dir da passiert ist. Ruf uns an, wenn Du willst. Wir stehen auf Deiner Seite.
Herzliche Grüße!
Reinhilde Burger von Schoolwatch
Wenn Jana den Schoolwatch-Brief ablehnt, wird ihr Leid vergrößert. Wenn sie jedoch einschwingt, kann sich ihre Belastung verringern. Bei diesem ersten Brief im Jahr 2000 waren sich alle Eltern der Initiative dieses Risikos bewusst. Würde ihr Brief helfen? Nun, Jana hatte sich gefreut, den Brief ihrer Freundin gezeigt und Frau Burger am nächsten Tag angerufen.
Die erste Intervention von Schoolwatch im September 2000 war ein Erfolg – und zigtausende solcher gelungenen Einmischungen sind seitdem geschehen. Die Briefe, Anrufe und Besuche von Schoolwatch sind eine feste Komponente im Schulleben geworden, von den Kindern heiß herbeigewünscht und immer voller Trost und heilender Wirkung. Die Anfangsschwierigkeiten sind heute längst überwunden, Schoolwatch ist renommiert und hat sich zu einer wirksamen Kraft gegen das Schulleid entwickelt. Und auch immer mehr Lehrer akzeptieren Schoolwatch – das Konzept von Schoolwatch, den Lehrern die Wahrheit der Kinder ohne Herabsetzung und Anschuldigung nahezubringen, ist aufgegangen.
Lernen ohne Sollen: Die geistige Freiheit des Kindes
Wenn die Kinder das Recht auf selbstbestimmtes Lernen haben, wenn ihnen die Gedankenfreiheit und Meinungsfreiheit nicht mehr im Namen von Zivilisation und Enkulturation abgesprochen werden, wenn die Schulpflicht aufgehoben und die heute bestehende Schule abgeschafft werden – was wird dann sein?
Was geschieht, wenn Kinder nicht in einem pädagogischen Weltbild sondern in selbstverantworteter geistiger Freiheit groß werden? Wenn eine Pflichtschule obsolet ist, wenn Kindern ihr Lernen gehört und sie ihr Weltverständnis in eigener Regie entwickeln? Welche Werte werden dann gelten? Wie wird die Welt dann aussehen?
Die Fantasie, die zur Beantwortung dieser Fragen aufgerufen ist, ist gefangen in langer Tradition, und negative Antworten sind sofort abrufbar. Wieso eigentlich? Warum drängen sich die Bilder von Chaos, Ausbeutung, Willkür, vom Untergang der Zivilisation auf, wenn Kinder mit Freiheit assoziiert werden, wenn dieser Grundwert unserer Kultur auf die Kinder gedacht wird?
Das Menschenbild vom Kind, das den negativen Antworten zugrunde liegt, ist ein sehr misstrauisches und pessimistisches: Ohne Schule, das heißt ohne die gezielte Intervention der Erwachsenen, gelingen Kinder, Zivilisation und Kultur nicht. Mein Menschenbild vom Kind ist jedoch konstruktiv. Für mich passen Kinder und Freiheit nicht nur gut zusammen, sondern Freiheit gelingt nur dann wirklich – und wirklich heißt: in steter Beziehung und Balance zur Freiheit des anderen und als Grundlage einer friedlichen Gesellschaft –, wenn Kinder sie in ihrem Kinderleben erfahren, wenn sie mit und in den Kindern groß wird. Wo führt das also hin, wenn Kinder über ihr Denken selbst bestimmen? In eine konstruktive freie Gesellschaft – was immer sie kennzeichnen wird. Das ist die große Antwort, die all den Fragen zunächst entgegenzuhalten ist. Dieser Denkbogen ist für mich nicht nur in der gesellschaftlichen Frage nach Diktatur oder Demokratie gültig, sondern auch in der Kinderfrage und der Schulfrage.
Menschen lernen immer, denn Menschen können nicht nicht lernen. Die Frage ist nicht die, ob Lernen stattfindet oder nicht – Lernen findet immer statt! Die Frage ist, ob ein Kind das lernen muss, was die Erwachsenen vorgeben, oder ob es das lernt, was es selbst zu lernen entscheidet – ob Lernen mit oder ohne Zwang stattfindet. Soll ein Kind lernen? Das lehne ich als unzulässigen Eingriff in die innere Freiheit eines anderen Menschen ohne Wenn und Aber ab. Ich möchte keine Zivilisation und Kultur, die auf der geistigen Bevormundung, Unterdrückung und Versklavung der eigenen Kinder beruht – und nichts anderes sehe im Lernen mit Zwang. Wer soll entscheiden über das, was gelernt wird, individuell und gesellschaftlich? Das Lernen gehört demjenigen, der lernt – nicht anderen. Ich will keine Marionetten!
Auch mir ist es wichtig, mein Wissen von der Welt weiterzugeben. Ich bin für eine kulturelle Tradierung. Aber nicht als kulturellen Imperialismus wie in Afrika oder bei den Indianern. Als Angebot, als Kommunikation von Gleich zu Gleich. Vielleicht am Anfang schwer zu realisieren, aber nicht unmöglich. Bei jedem Auslandsurlaub kann man erfahren, dass so etwas selbstverständlich gelingt, auch in Afrika oder am Ende der Welt. Von sich, seinem Wissen, seinen Werten, seinen Gefühlen – in gegenseitiger Achtung voreinander – berichten, darüber ins Gespräch kommen, Geben und Nehmen. Ich will, dass jungen Menschen die Welt – das Erwachsenenwissen von der Welt – nicht oktroyiert wird, sondern dass es ihnen vorgestellt und anvertraut wird: zur eigenen Bewertung. Die Kinder entscheiden selbst, was sie übernehmen und was nicht. Das Lernen ohne Sollen ist nicht das Ende des Lernens, sondern das Ende des Sollens beim Lernen.
Die Abschaffung des Zwangslernens vergrößert die Basis der Demokratie: Junge Menschen werden als vollwertige Bürger – als Bürger, die über ihr Denken und Lernen selbst bestimmen – in der Gesellschaft willkommen geheißen. Wenn in der Aufhebung der Schulpflicht eine Gefahr für Kindern gesehen wird (Kinderarbeit, Ausbeutung u. a.), dann kann man etwas dagegen tun. Begleitende Gesetze sorgen dafür, dass das Recht der Kinder, über ihr Lernen selbst zu bestimmen, nicht zu ihrem Nachteil wird: »Wer ein Kind gegen seinen Willen ... wird bestraft«: Unzählige solcher Schutzbestimmungen lassen sich ersinnen und in Gesetze fassen. Und bei entsprechendem gesellschaftlichen Willen auch effektiv durchführen. Den Kindern das Recht auf selbstbestimmtes Lernen zu ihrem Schutz zu nehmen – diese Verdrehung ist gänzlich überflüssig.
Wenn dann in einhundert Jahren tatsächlich eine Welt bevorzugt werden sollte, die zum Beispiel kaum mehr Mathematik kennt, wenn dann tatsächlich keine Brücke mehr gebaut werden könnte, wenn dann die Menschen auf Booten über den Rhein und die Elbe gelangen müssten: Wenn die Menschen im Jahr 2100 dies so wollen, frei entschieden haben, nachdem sie den Nutzen der Mathematik mit ihrem Schaden in Beziehung gesetzt haben und nachdem sie sich gegen die geistige Versklavung ihrer Kinder durch 10 lange Schuljahre Mathematikunterricht entschieden haben – ist das zu verurteilen, ist die Welt dann schlechter, bricht dann das Chaos aus? Ich kann das nicht erkennen. Ich erkenne, dass Freiheit mehr Lebensqualität in sich trägt als jegliche Sklaverei. Ich erkenne, dass Menschen, die über ihr Schicksal selbst bestimmen, glücklicher sind als die, die gezwungen werden. Und zwar auch glücklicher als die, die zu ihrem Glück gezwungen werden. Und selbstverständlich auch glücklicher als die, die zu ihrem Glück mit Mathematikunterricht oder Deutsch-, Englisch-, Französisch-, Biologie-, Sport-, Physik-, Geographie-, Technik-, Religionsunterricht und allen sonstigen Unterrichten noch gezwungen werden. Ich sehe die Harmonie dieser Menschen und ihren Frieden mit sich, den anderen und der Welt.
Was geschieht, wenn Kinder nicht in einem pädagogischen Weltbild sondern in selbstverantworteter geistiger Freiheit groß werden? Wenn eine Pflichtschule obsolet ist, wenn Kindern ihr Lernen gehört und sie ihr Weltverständnis in eigener Regie entwickeln? Welche Werte werden dann gelten? Wie wird die Welt dann aussehen?
Die Fantasie, die zur Beantwortung dieser Fragen aufgerufen ist, ist gefangen in langer Tradition, und negative Antworten sind sofort abrufbar. Wieso eigentlich? Warum drängen sich die Bilder von Chaos, Ausbeutung, Willkür, vom Untergang der Zivilisation auf, wenn Kinder mit Freiheit assoziiert werden, wenn dieser Grundwert unserer Kultur auf die Kinder gedacht wird?
Das Menschenbild vom Kind, das den negativen Antworten zugrunde liegt, ist ein sehr misstrauisches und pessimistisches: Ohne Schule, das heißt ohne die gezielte Intervention der Erwachsenen, gelingen Kinder, Zivilisation und Kultur nicht. Mein Menschenbild vom Kind ist jedoch konstruktiv. Für mich passen Kinder und Freiheit nicht nur gut zusammen, sondern Freiheit gelingt nur dann wirklich – und wirklich heißt: in steter Beziehung und Balance zur Freiheit des anderen und als Grundlage einer friedlichen Gesellschaft –, wenn Kinder sie in ihrem Kinderleben erfahren, wenn sie mit und in den Kindern groß wird. Wo führt das also hin, wenn Kinder über ihr Denken selbst bestimmen? In eine konstruktive freie Gesellschaft – was immer sie kennzeichnen wird. Das ist die große Antwort, die all den Fragen zunächst entgegenzuhalten ist. Dieser Denkbogen ist für mich nicht nur in der gesellschaftlichen Frage nach Diktatur oder Demokratie gültig, sondern auch in der Kinderfrage und der Schulfrage.
Menschen lernen immer, denn Menschen können nicht nicht lernen. Die Frage ist nicht die, ob Lernen stattfindet oder nicht – Lernen findet immer statt! Die Frage ist, ob ein Kind das lernen muss, was die Erwachsenen vorgeben, oder ob es das lernt, was es selbst zu lernen entscheidet – ob Lernen mit oder ohne Zwang stattfindet. Soll ein Kind lernen? Das lehne ich als unzulässigen Eingriff in die innere Freiheit eines anderen Menschen ohne Wenn und Aber ab. Ich möchte keine Zivilisation und Kultur, die auf der geistigen Bevormundung, Unterdrückung und Versklavung der eigenen Kinder beruht – und nichts anderes sehe im Lernen mit Zwang. Wer soll entscheiden über das, was gelernt wird, individuell und gesellschaftlich? Das Lernen gehört demjenigen, der lernt – nicht anderen. Ich will keine Marionetten!
Auch mir ist es wichtig, mein Wissen von der Welt weiterzugeben. Ich bin für eine kulturelle Tradierung. Aber nicht als kulturellen Imperialismus wie in Afrika oder bei den Indianern. Als Angebot, als Kommunikation von Gleich zu Gleich. Vielleicht am Anfang schwer zu realisieren, aber nicht unmöglich. Bei jedem Auslandsurlaub kann man erfahren, dass so etwas selbstverständlich gelingt, auch in Afrika oder am Ende der Welt. Von sich, seinem Wissen, seinen Werten, seinen Gefühlen – in gegenseitiger Achtung voreinander – berichten, darüber ins Gespräch kommen, Geben und Nehmen. Ich will, dass jungen Menschen die Welt – das Erwachsenenwissen von der Welt – nicht oktroyiert wird, sondern dass es ihnen vorgestellt und anvertraut wird: zur eigenen Bewertung. Die Kinder entscheiden selbst, was sie übernehmen und was nicht. Das Lernen ohne Sollen ist nicht das Ende des Lernens, sondern das Ende des Sollens beim Lernen.
Die Abschaffung des Zwangslernens vergrößert die Basis der Demokratie: Junge Menschen werden als vollwertige Bürger – als Bürger, die über ihr Denken und Lernen selbst bestimmen – in der Gesellschaft willkommen geheißen. Wenn in der Aufhebung der Schulpflicht eine Gefahr für Kindern gesehen wird (Kinderarbeit, Ausbeutung u. a.), dann kann man etwas dagegen tun. Begleitende Gesetze sorgen dafür, dass das Recht der Kinder, über ihr Lernen selbst zu bestimmen, nicht zu ihrem Nachteil wird: »Wer ein Kind gegen seinen Willen ... wird bestraft«: Unzählige solcher Schutzbestimmungen lassen sich ersinnen und in Gesetze fassen. Und bei entsprechendem gesellschaftlichen Willen auch effektiv durchführen. Den Kindern das Recht auf selbstbestimmtes Lernen zu ihrem Schutz zu nehmen – diese Verdrehung ist gänzlich überflüssig.
Wenn dann in einhundert Jahren tatsächlich eine Welt bevorzugt werden sollte, die zum Beispiel kaum mehr Mathematik kennt, wenn dann tatsächlich keine Brücke mehr gebaut werden könnte, wenn dann die Menschen auf Booten über den Rhein und die Elbe gelangen müssten: Wenn die Menschen im Jahr 2100 dies so wollen, frei entschieden haben, nachdem sie den Nutzen der Mathematik mit ihrem Schaden in Beziehung gesetzt haben und nachdem sie sich gegen die geistige Versklavung ihrer Kinder durch 10 lange Schuljahre Mathematikunterricht entschieden haben – ist das zu verurteilen, ist die Welt dann schlechter, bricht dann das Chaos aus? Ich kann das nicht erkennen. Ich erkenne, dass Freiheit mehr Lebensqualität in sich trägt als jegliche Sklaverei. Ich erkenne, dass Menschen, die über ihr Schicksal selbst bestimmen, glücklicher sind als die, die gezwungen werden. Und zwar auch glücklicher als die, die zu ihrem Glück gezwungen werden. Und selbstverständlich auch glücklicher als die, die zu ihrem Glück mit Mathematikunterricht oder Deutsch-, Englisch-, Französisch-, Biologie-, Sport-, Physik-, Geographie-, Technik-, Religionsunterricht und allen sonstigen Unterrichten noch gezwungen werden. Ich sehe die Harmonie dieser Menschen und ihren Frieden mit sich, den anderen und der Welt.
Lehrer: Realität und Vision
1. Die Monstrosität des Lehrerseins
»Mit welchem Recht ...?«
Ich will mit der Frage »Mit welchem Recht?« sehr grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schule aufwerfen. Dabei weiß ich, dass man meine Gedanken als unzulässige oder auch als herabsetzende Vorhaltungen abtun kann. Doch ich halte alle Überlegungen zum Thema Schule für zulässig, und ich setze niemanden herab, auch keinen Lehrer, auch nicht, wenn ich meine Gedanken ungeschminkt vortrage. Selbstverständlich kann jeder meine Position ablehnen. Aber jede Lehrerin und jeder Lehrer können meine Überlegungen auch als Ausdruck einer neuartigen und ungewohnten Perspektive begreifen, zuhören und in sich hineinlauschen.
Die Basis meiner Überlegungen ist, dass es keinen wirklichen Beweis dafür gibt, dass die anthropologische Voraussetzung für die Schule stimmt. Die anthropologische Voraussetzung heißt: Kinder werden vollwertige Menschen – was auch bedeutet: Kinder sind noch keine vollwertigen Menschen. Kinder werden Menschen erst durch die Leistungen der Schule, sie werden zivilisiert, kultiviert, sozialisiert. Ohne »Subjekt, Prädikat, Objekt« und ohne »(a + b) · (a + b)« und ohne all die anderen tausend Dinge, die in den Lehrplänen der Klassen eins bis zehn stehen, gelingen Kinder nicht. Der Mensch ist ein »Homo educandus«, ein Erziehungswesen, und dass Menschen zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft reifen, ist die Aufgabe – auch – der Schule. Und die Aufgabe der Erwachsenen, die in der Schule für dieses Ziel arbeiten.
Mir ist jedoch bewusst und ich übersehe nicht, dass die anthropologische Grundposition »Kinder werden vollwertige Menschen« eine Hypothese ist – und zwar nur eine Hypothese, nicht aber eine Tatsache. Sie ist eine tief verwurzelte Vermutung der heutigen Welt über die Kinder. Ich habe mich von dieser Vorstellung gelöst und bevorzuge eine andere Hypothese: Kinder sind vollwertige Menschen. Von Anfang an. Sie müssen nicht erst dazu gemacht werden, auch nicht auf die progressivste Art und Weise, auch nicht durch die Schule. Damit entfällt die Basislegitimation für die Schule. Und von daher – von der Position aus, dass Kinder immer schon vollwertige Menschen sind – kommt die Frage »Mit welchem Recht?«.
Gedankenfreiheit
Mit welchem Recht legen Sie fest, was ein anderer Mensch zu denken und was er nicht zu denken hat? »Schlag dein Buch auf, lies den zweiten Absatz von oben!«, »Wiederhole, was ich gerade gesagt habe!«, »Gib den Text mit eigenen Worten wieder!«, »Wie viel ist sieben mal acht?«, »Wo fließt der Amazonas?«, »Wann, warum, womit, weshalb, wodurch, weswegen, wohin, wie lange, wozu, wie oft, wie gut, wie schnell, mit wem, mit wem nicht, mit welchem Recht, ...?« Mit welchem Recht setzen Sie sich grandios über das Recht eines anderen Menschen hinweg, zu denken, was er will? Warum missachten Sie das Menschenrecht auf Gedankenfreiheit? Permanent, ohne auch nur irgendeinen Impuls des Innehaltens, des Ahnens, dass da etwas Ungeheuerliches passiert? Mit welchem Recht greifen Sie so ohne jeden Skrupel in die innere Souveränität eines anderen Menschen ein? Mit welchem Recht zelebrieren Sie in geradezu religiösem Fanatismus diesen kulturellen Imperialismus? Mit welchem Recht behandeln Sie die Kinder wie die Nigger, denen der Missionar die Religion und Zivilisation beizubringen hat? Warum haben Sie wie die kommunistische Partei immer recht? Was treibt Sie in diesen unreflektierten Chauvinismus?
Vollwertigkeit
Was hindert Sie eigentlich, in Kindern Menschen zu sehen, die ihre eigenen Gedanken und ihre eigene innere Welt haben, mit der man von Gleich zu Gleich in Austausch treten kann? Was treibt Sie in den »pädagogischen Bezug«, der Ihnen die Führungs- und Formungsrolle gibt, egal, wie progressiv sich das heute ausnimmt? Wozu ist es gut, dass Sie selbst nach und nach versteinern, weil Sie immer dieselben Fragen stellen und ohne wirklichen geistigen Austausch leben – den Sie verfehlen, wenn Sie Kinder nicht als vollwertige Menschen mit einer eigenen souveränen geistigen Welt sehen, sondern als Behälter, die mit Ihrem Wissen und Ihrer Kultur gefüllt werden müssen? Warum sind Ihre Augen verschlossen vor dem Leid, das Sie diesen Menschen psychisch, intellektuell und spirituell zufügen? Und vor dem Leid, das Sie sich durch die dadurch bedingte Isolation selbst zufügen?
Machbarkeitswahn
Warum verschließen Sie sich dem kulturellen Paradigmawechsel vom Oben – Unten hin zur Gleichwertigkeit und zur Achtung vor der Identität des anderen? Wie er längst gelungen ist in den Lebensbereichen Schwarz – Weiß, Mann – Frau, Mensch – Natur, Kultur – Kultur, Religion – Religion und vielen anderen? Mit welchem Recht setzen Sie den historisch überholten Totalitarismus im Klassenzimmer fort? Mit welchem Recht huldigen Sie Ikonen wie Comenius, Kant, Pestalozzi, Rousseau, Steiner, Montessori, Neill, Makarenko, Korczak, Freinet und tausend anderen, die – bei allen guten Absichten – den Charakter des »Homo faber« haben, des Menschen, der etwas herstellt und sein Produkt abliefert: Die mehr oder weniger gelungenen Kinder an die auftraggebende Gesellschaft? Warum treten Sie nicht als ein Mensch auf, der jenseits pädagogischer Listen und Missionen authentisch handelt, situativ entscheidet, personal-wahrhaftige Kommunikation realisiert und sich dabei als »Homo politicus« versteht? Mit welchem Recht bilden, formen, führen, gestalten, hegen, erziehen Sie Menschen, die längst, von Anfang an, vollwertige Menschen sind? Mit welchem Recht verordnen Sie im Machbarkeitswahn gottgleicher Sendung anderen Menschen Ihre kulturelle und zivilisatorische Vorstellung von Menschsein?
Meinungsfreiheit
Mit welchem Recht verstoßen Sie gegen das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit? Warum können die Kinder nicht sagen, was sie wollen und wann sie es wollen? Was heißt »Ihr seid zu laut!«, »Du bist nicht dran!«, »Rede vernünftig!«, »Das passt nicht hierher!« eigentlich? Mit welchem Recht maßen Sie sich an, anderen Menschen über den Mund zu fahren? Warum führen Sie mit Ihrem »Ruhe jetzt!« einen Luftkrieg? Mit welchem Recht sind nur Ihre Gedanken und Ihre Worte verbindlich, und warum haben die Kinder keine wirkliche Möglichkeit zum Widerspruch, zum Vorbringen eigener Meinungen, zur Vertretung ihrer Interessen? Mit welchem Recht hängt alles grundsätzlich und im Detail immer wieder von Ihrem Wohlwollen ab, wie in der Leibeigenschaft? Mit welchem Recht üben Sie im Klassenzimmer Diktatur aus und missachten Sie die Grundwerte der Demokratie? Mit welchem Recht gilt für Sie nicht »Die Würde des Menschen ist unantastbar«? Mit welchem Recht tasten Sie die Würde der Kinder an, denken und sagen zu können, was sie selbst denken und sagen wollen?
Freiheit der Person
Mit welchem Recht sperren Sie Menschen ein? Warum sind Sie die Person, die Kinder in engen Räumen gefangen hält? 30 Personen in einem einzigen, wenige Quadratmeter großen Raum, 45 Minuten um 45 Minuten, 4, 5, 6, 7, 8mal am Tag, 5 oder 6 Tage in der Woche? Warum müssen die Kinder durch Sie 10 Jahre lang erleben, dass sie viele Stunden am Tag in ein Gefängnis gehören, in das »Teilzeitgefängnis Schule«? Mit welchem Recht missachten Sie die »Freiheit der Person« des Grundgesetzartikels 2? Warum lassen Sie zu, dass die Kinder Ihnen hinter verschlossenen Türen ausgeliefert sind? Mit welchem Recht fördern und garantieren Sie tagtäglich diese umfassende Kindesmisshandlung? Warum geben Sie sich für etwas her, für das die Bezeichnung »Gehirnwäsche« milde, »Seelenmord« drastisch ist? Warum lassen Sie sich dafür einspannen, in einem gigantischen Umerziehungslager, das Menschen ihre Identität bricht und neu justiert, den Vorsitz dieser Barbarei zu übernehmen? Mit welchem Recht lassen Sie zu, dass Menschen in Not nicht bei denen Schutz und Trost finden können, denen sie vertrauen und die sie brauchen? Wenn eine Siebenjährige in der dritten Stunde nach Hause zu ihrer Mutter will – was verführt Sie zu der Unmenschlichkeit, das nicht ohne Wenn und Aber zuzulassen?
Körperliche Unversehrtheit
Mit welchem Recht greifen Sie in die grundgesetzlich garantierte körperliche Unversehrtheit anderer Menschen ein, indem Sie mit tausenderlei Anordnungen ein bestimmtes körperliches Verhalten verlangen und ein anderes verbieten? Nicht nur im Sport-, Schwimm- und Musikunterricht, sondern den ganzen Schultag über auf Schritt und Tritt? »Setz dich! Steh auf! Steh still! Sitz ruhig! Sitz gerade! Sitz ordentlich! Hampel nicht! Wackel nicht! Kippel nicht! Füße runter! Knie zusammen! Zeig auf! Finger runter! Finger weg! Schreib schneller! Andere Hand! Hand geben! Hand auf! Zeig her! Gib her! Leg weg! Komm her! Geh weg! Geh langsam! Trampel nicht! Schlurf nicht! Renn nicht! Geh schneller! Schlag nicht! Box nicht! Tritt nicht! Kratz nicht! Beiß nicht! Spuck nicht! Spuck aus! Kaugummi weg! Puste nicht! Mund auf! Mund zu! Iss nicht! Iss jetzt! Trink nicht! Trink jetzt! Schmatz nicht! Schlürf nicht! Sieh her! Sieh weg! Lach nicht! Grins nicht! Sing nicht! Pfeif nicht! Kreisch nicht! Kicher nicht! Nase putzen! Schnief nicht! Jetzt nicht aufs Klo! Schrei nicht! Heul nicht! Rede lauter! Rede leiser!«
Noten
Mit welchem Recht geben Sie eigentlich Noten? Haben die Menschen vor Ihnen Sie darum gebeten? Mit welchem Recht verlangen Sie Auskunft über die Gedanken anderer Menschen? Mit welchem Recht verlangen Sie, dass andere Menschen ihre Gedanken auf Ihr Papier schreiben, das Sie hochtrabend »Klassenarbeit« nennen? Mit welchem Recht beurteilen Sie die Kinder, mischen Sie sich in das Selbstwertgefühl anderer Menschen ein, stiften Sie zum Krieg in den Familien an, treiben Sie Kinder in den Selbstmord aufgrund Ihrer Schulzeugnisse? Wissen Sie eigentlich, was Ihre Noten in den Familien bewirken können? An seelischer Grausamkeit und körperlicher Misshandlung?
Traumatisierung
Mit welchem Recht traumatisieren Sie die jungen Menschen vor Ihnen? Warum tun Sie das alles? Sind Sie nicht intelligent, Akademiker, können Sie nicht Zusammenhänge analysieren, Wirklichkeit erkennen? Was verschließt Ihre Augen? Sind Sie nicht angetreten, Menschen zu helfen, ihre Entwicklung zu fördern? Haben Sie nicht Sympathie für die Kinder? Lieben Sie nicht die Kinder? Warum erheben Sie sich nicht gegen dieses System? Warum sind Sie der Garant für diese Inhumanität? Warum sind Sie so unsensibel? Liegt nicht alles offen vor Ihnen? Sagen Ihnen die Kinder nicht jeden Tag die Wahrheit, wortlos und immer wieder auch mit Worten? Warum sehen Sie nicht in die Gesichter der Kinder? Und warum achten Sie nicht auf ihre Mimik, Gestik, auf all die nonverbalen Signale? Sind vor Ihnen keine Menschen? Und Ihre Erinnerung? Waren Sie nicht selbst Schulkind? Wurde mit Ihnen nicht ebenso verfahren? Waren die damaligen Schmerzen und psychischen Verletzungen denn berechtigt? Haben Sie nicht gelitten? Ist das Leid von damals zu groß, um heute zu erkennen, dass Sie selbst derjenige sind, der dies den heutigen Kindern zufügt? Ist das alles Wiederholungszwang, Wahnsinn, Schicksal? Mit welchem Recht ...? Mit welchem Recht ...?
2. Die Humanität des Lehrerseins
Selbstverständlich gibt es eine Alternative. Meine Hilfe ist vor allem für die Lehrerinnen und Lehrer gedacht, die der Wahrheit, so wie ich sie sehe, nicht ausweichen und die sich eingestehen können, dass sie an den Vormittagen Menschenrechte beugen und Geld durch die Unterdrückung von Kindern verdienen.
Wenn man schon in der Schule als Lehrer arbeitet, dann kann man das mit klarem Bewusstsein von dem tun, was man dort anstellt, und dass dies durch nichts wirklich zu rechtfertigen ist. Das Wissen davon, dass man Unrecht tut, und dass man es als solches erkennt, teilt sich den Kindern ohne Worte mit. Die Haltung eines Lehrers, der weiß, was er tut, ist eine andere als die eines Lehrers, der mit einer imperialen, die Wirklichkeit verschleiernden Haltung vor die Kinder tritt. Auf die stumme Frage der Kinder: »Warum tust du das?«, kann er antworten, ebenfalls ohne Worte: »Ich weiß es nicht so genau. Vielleicht wegen meiner Biographie. Meiner Naivität. Weil ich die Zusammenhänge anders gesehen hatte und nun nicht aussteigen will. Wegen der vielen Vorteile: Geld, Macht, Arbeitsplatz, Pension, Urlaub. Wegen meiner Ideale, meiner Liebe zu Kindern, zum Frieden. Vielleicht wollte ich zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen. Aber ich sehe jetzt: Ich tue euch Unrecht. Ich weiß es, und ich verschleiere es nicht. Ich sage nicht, dass das alles zu eurem Besten ist. Ich lasse euch in die Wahrheit meines Herzens sehen.«
Die Kinder reagieren: »Er ist ehrlich. Er tut dasselbe wie die anderen Lehrer, aber es fühlt sich anders an. Das Leid, das von ihm ausgeht, hat nicht diese Wucht. Er achtet uns als vollwertige Menschen, auch wenn er uns und unsere Rechte unterdrückt.« Die Zerrissenheit, stets um das Unrecht zu wissen, das man tut, es zu verabscheuen und nicht tun zu wollen und es im gleichen Atemzug aber doch konkret zu tun, kompromisslos und entschieden zu tun, hat auch etwas Komisches und Befreiendes: Der Schleier vor der Macht ist zerrissen, sie ist ungeschminkt zu erkennen. Das, was geschieht, unterliegt nicht länger einem Tabu, gleichsam gottgewollt, unhinterfragbar, sondern wird bei aller Unrechtmäßigkeit und Belastung verständlich, überdenkbar, kritisierbar. Genau solche Prozesse löst dieser Lehrer mit seiner Wahrhaftigkeit aus, und genau das spüren die Kinder, und genau das hilft und heilt.
Lehrer mit dem Bewusstsein von den Menschenrechtsverletzungen, die von ihnen ausgehen, sind eine große Hoffnung für die Kinder. Sie sind nicht nur die, die den Gedanken an den einstigen Sturz der Schule verkörpern und ihn eines Tages mittragen werden. Sie sind vor allem diejenigen, die hier und heute Gleichwertigkeit und Personalität zur unausgesprochenen Grundlage der Lehrer-Schüler-Beziehung machen. Durch sie wird die Achtung vor der Würde des Schulkindes immer wieder eine konkrete und eindringliche Erfahrung.
Diese Lehrer haben eine spezifische achtungsvolle Ausstrahlung. Diese Lehrer lassen Fünfe gerade sein. Diese Lehrer geben zu verstehen, dass sie Noten geben müssen, und dass diese Noten niemals etwas mit dem Wert der Kinder, sondern nur etwas mit dem Schulmaßstab zu tun haben. Diese Lehrer sind darüber hinaus eine klare Orientierung, denn sie stehen für sich selbst ein, lassen sich nicht auf der Nase herumtanzen, sind nicht falsch verstanden kinderfreundlich. Sie sind Lehrer mit all diesen Schuldingen, Feinde, aber Feinde, die die Würde der Kinder nicht aus dem Auge verlieren. Diese Lehrer haben eine von innen kommende Autorität, die sich nichts anmaßt. Diese Lehrer haben etwas von der Harmonie wieder gefunden, von dem inneren Gleichgewicht, das sie nicht wirklich über die Kinder stellt. Sie stehen über den Kindern nur aufgrund der Struktur, die das von ihnen verlangt. In ihrem Herzen sind diese Lehrer auf einer gleichwertigen Ebene mit den Kindern, und sie geben der Schule, was der Schule ist, ohne Verbrämung, Pathos und Schönrederei. Diese Lehrer haben sich dadurch, dass sie erkennen, was sie tun, auch zu sich selbst befreit, und ihre Persönlichkeit ist ohne Realitätsverlust und ohne Lüge.
Ein Lehrer, der diese Zusammenhänge erkennt, kann durch die Entschleierung der Realität und durch die Aufdeckung der Lüge sich selbst wieder im Mittelpunkt seines Lebens sehen, auch seines Lebens in der Schule. Er ist zunächst nicht für die Kinder da – er ist zuallererst für sich selbst da, verantwortlich für das groß gewordene Kind, das er ist, und er kümmert sich vor allem um dieses Kind: um sich selbst. Mithin ist er das 31. Kind in der Klasse, und bevor er sich den 30 anderen zuwendet, sorgt er für sich. Zum Beispiel dafür, dass es keine Grenzüberschreitung gibt, und zwar ihm gegenüber. Wenn Worte und Erklärungen nicht reichen, wenn Bitten und Ermahnungen nicht helfen, greift er energisch zu den Abscheulichkeiten, die die Schule zu seinem Schutz aufbietet: Lärm – wird im Keim erstickt. Keine Hausaufgaben – die Daumenschrauben werden angelegt. Ungehörigkeiten – es geht den Strafkatalog rauf und runter. Er setzt dann Autorität für sich ein, nicht aber gegen die Kinder. Und genau das nimmt seiner Aktion das Gift und macht sie erfolgreich.
Dieser Lehrer setzt sich für sich ein, und dafür, dass er an seinem Arbeitsplatz zurechtkommt. Auch dadurch, dass er die Kollegen nicht durch zu viele Zugeständnisse an die Kinder gegen sich aufbringt. Er behält die Übersicht. Er weiß, wo er gelandet ist, und seine befreite Sicht bewirkt nicht einen neuen Realitätsverlust: Er ist in einer Schule, nirgendwo sonst. Er wahrt die Balance zwischen den unzweifelhaft berechtigten Wünschen der Kinder, als vollwertige Menschen behandelt zu werden, einerseits, und den täglichen Anforderungen der heutigen Schule und seiner konkreten Arbeitssituation andererseits. Dieser Lehrer ist realistisch, aufgeklärt und so einfühlsam und konkret hilfreich, wie er sich das in Abschätzung aller Möglichkeiten leisten kann. Er transportiert Humanität und Freundlichkeit offen oder auch auf Schleichwegen ins Klassenzimmer, so wie es kommt, flexibel, ohne sich unter Druck zu setzen, ohne Stress. Seine Klarheit befreit ihn auch hier.
Dieser Lehrer weiß auch, dass er die Schule jederzeit verlassen kann. Wenn er jedoch bleibt, hält er sie aus, und auch das, was er dort tut, und er ist dabei so hilfreich, wie er kann. Und warum sollte er die Schule auch verlassen? »Wenn du gehst, kommt Herr Meier an deiner Stelle, das wollen wir nicht«: Das Votum der Kinder ist eindeutig, und bei allem Leid, das von ihm kommt, fühlen sie sich doch von ihm gestützt und geachtet. Die Botschaft, die von diesem Lehrer ausgeht, ist eine machtvolle, im Untergrund und im Herzen wirkende Strömung: »Ich bin ein vollwertiger Mensch von Anfang an – so wie ihr auch. Ich glaube an mich – so wie ihr auch an euch glauben könnt. Ich liebe mich, so wie ich bin – so, wie auch ihr euch lieben könnt, wie immer ihr seid.«
»Mit welchem Recht ...?«
Ich will mit der Frage »Mit welchem Recht?« sehr grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schule aufwerfen. Dabei weiß ich, dass man meine Gedanken als unzulässige oder auch als herabsetzende Vorhaltungen abtun kann. Doch ich halte alle Überlegungen zum Thema Schule für zulässig, und ich setze niemanden herab, auch keinen Lehrer, auch nicht, wenn ich meine Gedanken ungeschminkt vortrage. Selbstverständlich kann jeder meine Position ablehnen. Aber jede Lehrerin und jeder Lehrer können meine Überlegungen auch als Ausdruck einer neuartigen und ungewohnten Perspektive begreifen, zuhören und in sich hineinlauschen.
Die Basis meiner Überlegungen ist, dass es keinen wirklichen Beweis dafür gibt, dass die anthropologische Voraussetzung für die Schule stimmt. Die anthropologische Voraussetzung heißt: Kinder werden vollwertige Menschen – was auch bedeutet: Kinder sind noch keine vollwertigen Menschen. Kinder werden Menschen erst durch die Leistungen der Schule, sie werden zivilisiert, kultiviert, sozialisiert. Ohne »Subjekt, Prädikat, Objekt« und ohne »(a + b) · (a + b)« und ohne all die anderen tausend Dinge, die in den Lehrplänen der Klassen eins bis zehn stehen, gelingen Kinder nicht. Der Mensch ist ein »Homo educandus«, ein Erziehungswesen, und dass Menschen zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft reifen, ist die Aufgabe – auch – der Schule. Und die Aufgabe der Erwachsenen, die in der Schule für dieses Ziel arbeiten.
Mir ist jedoch bewusst und ich übersehe nicht, dass die anthropologische Grundposition »Kinder werden vollwertige Menschen« eine Hypothese ist – und zwar nur eine Hypothese, nicht aber eine Tatsache. Sie ist eine tief verwurzelte Vermutung der heutigen Welt über die Kinder. Ich habe mich von dieser Vorstellung gelöst und bevorzuge eine andere Hypothese: Kinder sind vollwertige Menschen. Von Anfang an. Sie müssen nicht erst dazu gemacht werden, auch nicht auf die progressivste Art und Weise, auch nicht durch die Schule. Damit entfällt die Basislegitimation für die Schule. Und von daher – von der Position aus, dass Kinder immer schon vollwertige Menschen sind – kommt die Frage »Mit welchem Recht?«.
Gedankenfreiheit
Mit welchem Recht legen Sie fest, was ein anderer Mensch zu denken und was er nicht zu denken hat? »Schlag dein Buch auf, lies den zweiten Absatz von oben!«, »Wiederhole, was ich gerade gesagt habe!«, »Gib den Text mit eigenen Worten wieder!«, »Wie viel ist sieben mal acht?«, »Wo fließt der Amazonas?«, »Wann, warum, womit, weshalb, wodurch, weswegen, wohin, wie lange, wozu, wie oft, wie gut, wie schnell, mit wem, mit wem nicht, mit welchem Recht, ...?« Mit welchem Recht setzen Sie sich grandios über das Recht eines anderen Menschen hinweg, zu denken, was er will? Warum missachten Sie das Menschenrecht auf Gedankenfreiheit? Permanent, ohne auch nur irgendeinen Impuls des Innehaltens, des Ahnens, dass da etwas Ungeheuerliches passiert? Mit welchem Recht greifen Sie so ohne jeden Skrupel in die innere Souveränität eines anderen Menschen ein? Mit welchem Recht zelebrieren Sie in geradezu religiösem Fanatismus diesen kulturellen Imperialismus? Mit welchem Recht behandeln Sie die Kinder wie die Nigger, denen der Missionar die Religion und Zivilisation beizubringen hat? Warum haben Sie wie die kommunistische Partei immer recht? Was treibt Sie in diesen unreflektierten Chauvinismus?
Vollwertigkeit
Was hindert Sie eigentlich, in Kindern Menschen zu sehen, die ihre eigenen Gedanken und ihre eigene innere Welt haben, mit der man von Gleich zu Gleich in Austausch treten kann? Was treibt Sie in den »pädagogischen Bezug«, der Ihnen die Führungs- und Formungsrolle gibt, egal, wie progressiv sich das heute ausnimmt? Wozu ist es gut, dass Sie selbst nach und nach versteinern, weil Sie immer dieselben Fragen stellen und ohne wirklichen geistigen Austausch leben – den Sie verfehlen, wenn Sie Kinder nicht als vollwertige Menschen mit einer eigenen souveränen geistigen Welt sehen, sondern als Behälter, die mit Ihrem Wissen und Ihrer Kultur gefüllt werden müssen? Warum sind Ihre Augen verschlossen vor dem Leid, das Sie diesen Menschen psychisch, intellektuell und spirituell zufügen? Und vor dem Leid, das Sie sich durch die dadurch bedingte Isolation selbst zufügen?
Machbarkeitswahn
Warum verschließen Sie sich dem kulturellen Paradigmawechsel vom Oben – Unten hin zur Gleichwertigkeit und zur Achtung vor der Identität des anderen? Wie er längst gelungen ist in den Lebensbereichen Schwarz – Weiß, Mann – Frau, Mensch – Natur, Kultur – Kultur, Religion – Religion und vielen anderen? Mit welchem Recht setzen Sie den historisch überholten Totalitarismus im Klassenzimmer fort? Mit welchem Recht huldigen Sie Ikonen wie Comenius, Kant, Pestalozzi, Rousseau, Steiner, Montessori, Neill, Makarenko, Korczak, Freinet und tausend anderen, die – bei allen guten Absichten – den Charakter des »Homo faber« haben, des Menschen, der etwas herstellt und sein Produkt abliefert: Die mehr oder weniger gelungenen Kinder an die auftraggebende Gesellschaft? Warum treten Sie nicht als ein Mensch auf, der jenseits pädagogischer Listen und Missionen authentisch handelt, situativ entscheidet, personal-wahrhaftige Kommunikation realisiert und sich dabei als »Homo politicus« versteht? Mit welchem Recht bilden, formen, führen, gestalten, hegen, erziehen Sie Menschen, die längst, von Anfang an, vollwertige Menschen sind? Mit welchem Recht verordnen Sie im Machbarkeitswahn gottgleicher Sendung anderen Menschen Ihre kulturelle und zivilisatorische Vorstellung von Menschsein?
Meinungsfreiheit
Mit welchem Recht verstoßen Sie gegen das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit? Warum können die Kinder nicht sagen, was sie wollen und wann sie es wollen? Was heißt »Ihr seid zu laut!«, »Du bist nicht dran!«, »Rede vernünftig!«, »Das passt nicht hierher!« eigentlich? Mit welchem Recht maßen Sie sich an, anderen Menschen über den Mund zu fahren? Warum führen Sie mit Ihrem »Ruhe jetzt!« einen Luftkrieg? Mit welchem Recht sind nur Ihre Gedanken und Ihre Worte verbindlich, und warum haben die Kinder keine wirkliche Möglichkeit zum Widerspruch, zum Vorbringen eigener Meinungen, zur Vertretung ihrer Interessen? Mit welchem Recht hängt alles grundsätzlich und im Detail immer wieder von Ihrem Wohlwollen ab, wie in der Leibeigenschaft? Mit welchem Recht üben Sie im Klassenzimmer Diktatur aus und missachten Sie die Grundwerte der Demokratie? Mit welchem Recht gilt für Sie nicht »Die Würde des Menschen ist unantastbar«? Mit welchem Recht tasten Sie die Würde der Kinder an, denken und sagen zu können, was sie selbst denken und sagen wollen?
Freiheit der Person
Mit welchem Recht sperren Sie Menschen ein? Warum sind Sie die Person, die Kinder in engen Räumen gefangen hält? 30 Personen in einem einzigen, wenige Quadratmeter großen Raum, 45 Minuten um 45 Minuten, 4, 5, 6, 7, 8mal am Tag, 5 oder 6 Tage in der Woche? Warum müssen die Kinder durch Sie 10 Jahre lang erleben, dass sie viele Stunden am Tag in ein Gefängnis gehören, in das »Teilzeitgefängnis Schule«? Mit welchem Recht missachten Sie die »Freiheit der Person« des Grundgesetzartikels 2? Warum lassen Sie zu, dass die Kinder Ihnen hinter verschlossenen Türen ausgeliefert sind? Mit welchem Recht fördern und garantieren Sie tagtäglich diese umfassende Kindesmisshandlung? Warum geben Sie sich für etwas her, für das die Bezeichnung »Gehirnwäsche« milde, »Seelenmord« drastisch ist? Warum lassen Sie sich dafür einspannen, in einem gigantischen Umerziehungslager, das Menschen ihre Identität bricht und neu justiert, den Vorsitz dieser Barbarei zu übernehmen? Mit welchem Recht lassen Sie zu, dass Menschen in Not nicht bei denen Schutz und Trost finden können, denen sie vertrauen und die sie brauchen? Wenn eine Siebenjährige in der dritten Stunde nach Hause zu ihrer Mutter will – was verführt Sie zu der Unmenschlichkeit, das nicht ohne Wenn und Aber zuzulassen?
Körperliche Unversehrtheit
Mit welchem Recht greifen Sie in die grundgesetzlich garantierte körperliche Unversehrtheit anderer Menschen ein, indem Sie mit tausenderlei Anordnungen ein bestimmtes körperliches Verhalten verlangen und ein anderes verbieten? Nicht nur im Sport-, Schwimm- und Musikunterricht, sondern den ganzen Schultag über auf Schritt und Tritt? »Setz dich! Steh auf! Steh still! Sitz ruhig! Sitz gerade! Sitz ordentlich! Hampel nicht! Wackel nicht! Kippel nicht! Füße runter! Knie zusammen! Zeig auf! Finger runter! Finger weg! Schreib schneller! Andere Hand! Hand geben! Hand auf! Zeig her! Gib her! Leg weg! Komm her! Geh weg! Geh langsam! Trampel nicht! Schlurf nicht! Renn nicht! Geh schneller! Schlag nicht! Box nicht! Tritt nicht! Kratz nicht! Beiß nicht! Spuck nicht! Spuck aus! Kaugummi weg! Puste nicht! Mund auf! Mund zu! Iss nicht! Iss jetzt! Trink nicht! Trink jetzt! Schmatz nicht! Schlürf nicht! Sieh her! Sieh weg! Lach nicht! Grins nicht! Sing nicht! Pfeif nicht! Kreisch nicht! Kicher nicht! Nase putzen! Schnief nicht! Jetzt nicht aufs Klo! Schrei nicht! Heul nicht! Rede lauter! Rede leiser!«
Noten
Mit welchem Recht geben Sie eigentlich Noten? Haben die Menschen vor Ihnen Sie darum gebeten? Mit welchem Recht verlangen Sie Auskunft über die Gedanken anderer Menschen? Mit welchem Recht verlangen Sie, dass andere Menschen ihre Gedanken auf Ihr Papier schreiben, das Sie hochtrabend »Klassenarbeit« nennen? Mit welchem Recht beurteilen Sie die Kinder, mischen Sie sich in das Selbstwertgefühl anderer Menschen ein, stiften Sie zum Krieg in den Familien an, treiben Sie Kinder in den Selbstmord aufgrund Ihrer Schulzeugnisse? Wissen Sie eigentlich, was Ihre Noten in den Familien bewirken können? An seelischer Grausamkeit und körperlicher Misshandlung?
Traumatisierung
Mit welchem Recht traumatisieren Sie die jungen Menschen vor Ihnen? Warum tun Sie das alles? Sind Sie nicht intelligent, Akademiker, können Sie nicht Zusammenhänge analysieren, Wirklichkeit erkennen? Was verschließt Ihre Augen? Sind Sie nicht angetreten, Menschen zu helfen, ihre Entwicklung zu fördern? Haben Sie nicht Sympathie für die Kinder? Lieben Sie nicht die Kinder? Warum erheben Sie sich nicht gegen dieses System? Warum sind Sie der Garant für diese Inhumanität? Warum sind Sie so unsensibel? Liegt nicht alles offen vor Ihnen? Sagen Ihnen die Kinder nicht jeden Tag die Wahrheit, wortlos und immer wieder auch mit Worten? Warum sehen Sie nicht in die Gesichter der Kinder? Und warum achten Sie nicht auf ihre Mimik, Gestik, auf all die nonverbalen Signale? Sind vor Ihnen keine Menschen? Und Ihre Erinnerung? Waren Sie nicht selbst Schulkind? Wurde mit Ihnen nicht ebenso verfahren? Waren die damaligen Schmerzen und psychischen Verletzungen denn berechtigt? Haben Sie nicht gelitten? Ist das Leid von damals zu groß, um heute zu erkennen, dass Sie selbst derjenige sind, der dies den heutigen Kindern zufügt? Ist das alles Wiederholungszwang, Wahnsinn, Schicksal? Mit welchem Recht ...? Mit welchem Recht ...?
2. Die Humanität des Lehrerseins
Selbstverständlich gibt es eine Alternative. Meine Hilfe ist vor allem für die Lehrerinnen und Lehrer gedacht, die der Wahrheit, so wie ich sie sehe, nicht ausweichen und die sich eingestehen können, dass sie an den Vormittagen Menschenrechte beugen und Geld durch die Unterdrückung von Kindern verdienen.
Wenn man schon in der Schule als Lehrer arbeitet, dann kann man das mit klarem Bewusstsein von dem tun, was man dort anstellt, und dass dies durch nichts wirklich zu rechtfertigen ist. Das Wissen davon, dass man Unrecht tut, und dass man es als solches erkennt, teilt sich den Kindern ohne Worte mit. Die Haltung eines Lehrers, der weiß, was er tut, ist eine andere als die eines Lehrers, der mit einer imperialen, die Wirklichkeit verschleiernden Haltung vor die Kinder tritt. Auf die stumme Frage der Kinder: »Warum tust du das?«, kann er antworten, ebenfalls ohne Worte: »Ich weiß es nicht so genau. Vielleicht wegen meiner Biographie. Meiner Naivität. Weil ich die Zusammenhänge anders gesehen hatte und nun nicht aussteigen will. Wegen der vielen Vorteile: Geld, Macht, Arbeitsplatz, Pension, Urlaub. Wegen meiner Ideale, meiner Liebe zu Kindern, zum Frieden. Vielleicht wollte ich zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen. Aber ich sehe jetzt: Ich tue euch Unrecht. Ich weiß es, und ich verschleiere es nicht. Ich sage nicht, dass das alles zu eurem Besten ist. Ich lasse euch in die Wahrheit meines Herzens sehen.«
Die Kinder reagieren: »Er ist ehrlich. Er tut dasselbe wie die anderen Lehrer, aber es fühlt sich anders an. Das Leid, das von ihm ausgeht, hat nicht diese Wucht. Er achtet uns als vollwertige Menschen, auch wenn er uns und unsere Rechte unterdrückt.« Die Zerrissenheit, stets um das Unrecht zu wissen, das man tut, es zu verabscheuen und nicht tun zu wollen und es im gleichen Atemzug aber doch konkret zu tun, kompromisslos und entschieden zu tun, hat auch etwas Komisches und Befreiendes: Der Schleier vor der Macht ist zerrissen, sie ist ungeschminkt zu erkennen. Das, was geschieht, unterliegt nicht länger einem Tabu, gleichsam gottgewollt, unhinterfragbar, sondern wird bei aller Unrechtmäßigkeit und Belastung verständlich, überdenkbar, kritisierbar. Genau solche Prozesse löst dieser Lehrer mit seiner Wahrhaftigkeit aus, und genau das spüren die Kinder, und genau das hilft und heilt.
Lehrer mit dem Bewusstsein von den Menschenrechtsverletzungen, die von ihnen ausgehen, sind eine große Hoffnung für die Kinder. Sie sind nicht nur die, die den Gedanken an den einstigen Sturz der Schule verkörpern und ihn eines Tages mittragen werden. Sie sind vor allem diejenigen, die hier und heute Gleichwertigkeit und Personalität zur unausgesprochenen Grundlage der Lehrer-Schüler-Beziehung machen. Durch sie wird die Achtung vor der Würde des Schulkindes immer wieder eine konkrete und eindringliche Erfahrung.
Diese Lehrer haben eine spezifische achtungsvolle Ausstrahlung. Diese Lehrer lassen Fünfe gerade sein. Diese Lehrer geben zu verstehen, dass sie Noten geben müssen, und dass diese Noten niemals etwas mit dem Wert der Kinder, sondern nur etwas mit dem Schulmaßstab zu tun haben. Diese Lehrer sind darüber hinaus eine klare Orientierung, denn sie stehen für sich selbst ein, lassen sich nicht auf der Nase herumtanzen, sind nicht falsch verstanden kinderfreundlich. Sie sind Lehrer mit all diesen Schuldingen, Feinde, aber Feinde, die die Würde der Kinder nicht aus dem Auge verlieren. Diese Lehrer haben eine von innen kommende Autorität, die sich nichts anmaßt. Diese Lehrer haben etwas von der Harmonie wieder gefunden, von dem inneren Gleichgewicht, das sie nicht wirklich über die Kinder stellt. Sie stehen über den Kindern nur aufgrund der Struktur, die das von ihnen verlangt. In ihrem Herzen sind diese Lehrer auf einer gleichwertigen Ebene mit den Kindern, und sie geben der Schule, was der Schule ist, ohne Verbrämung, Pathos und Schönrederei. Diese Lehrer haben sich dadurch, dass sie erkennen, was sie tun, auch zu sich selbst befreit, und ihre Persönlichkeit ist ohne Realitätsverlust und ohne Lüge.
Ein Lehrer, der diese Zusammenhänge erkennt, kann durch die Entschleierung der Realität und durch die Aufdeckung der Lüge sich selbst wieder im Mittelpunkt seines Lebens sehen, auch seines Lebens in der Schule. Er ist zunächst nicht für die Kinder da – er ist zuallererst für sich selbst da, verantwortlich für das groß gewordene Kind, das er ist, und er kümmert sich vor allem um dieses Kind: um sich selbst. Mithin ist er das 31. Kind in der Klasse, und bevor er sich den 30 anderen zuwendet, sorgt er für sich. Zum Beispiel dafür, dass es keine Grenzüberschreitung gibt, und zwar ihm gegenüber. Wenn Worte und Erklärungen nicht reichen, wenn Bitten und Ermahnungen nicht helfen, greift er energisch zu den Abscheulichkeiten, die die Schule zu seinem Schutz aufbietet: Lärm – wird im Keim erstickt. Keine Hausaufgaben – die Daumenschrauben werden angelegt. Ungehörigkeiten – es geht den Strafkatalog rauf und runter. Er setzt dann Autorität für sich ein, nicht aber gegen die Kinder. Und genau das nimmt seiner Aktion das Gift und macht sie erfolgreich.
Dieser Lehrer setzt sich für sich ein, und dafür, dass er an seinem Arbeitsplatz zurechtkommt. Auch dadurch, dass er die Kollegen nicht durch zu viele Zugeständnisse an die Kinder gegen sich aufbringt. Er behält die Übersicht. Er weiß, wo er gelandet ist, und seine befreite Sicht bewirkt nicht einen neuen Realitätsverlust: Er ist in einer Schule, nirgendwo sonst. Er wahrt die Balance zwischen den unzweifelhaft berechtigten Wünschen der Kinder, als vollwertige Menschen behandelt zu werden, einerseits, und den täglichen Anforderungen der heutigen Schule und seiner konkreten Arbeitssituation andererseits. Dieser Lehrer ist realistisch, aufgeklärt und so einfühlsam und konkret hilfreich, wie er sich das in Abschätzung aller Möglichkeiten leisten kann. Er transportiert Humanität und Freundlichkeit offen oder auch auf Schleichwegen ins Klassenzimmer, so wie es kommt, flexibel, ohne sich unter Druck zu setzen, ohne Stress. Seine Klarheit befreit ihn auch hier.
Dieser Lehrer weiß auch, dass er die Schule jederzeit verlassen kann. Wenn er jedoch bleibt, hält er sie aus, und auch das, was er dort tut, und er ist dabei so hilfreich, wie er kann. Und warum sollte er die Schule auch verlassen? »Wenn du gehst, kommt Herr Meier an deiner Stelle, das wollen wir nicht«: Das Votum der Kinder ist eindeutig, und bei allem Leid, das von ihm kommt, fühlen sie sich doch von ihm gestützt und geachtet. Die Botschaft, die von diesem Lehrer ausgeht, ist eine machtvolle, im Untergrund und im Herzen wirkende Strömung: »Ich bin ein vollwertiger Mensch von Anfang an – so wie ihr auch. Ich glaube an mich – so wie ihr auch an euch glauben könnt. Ich liebe mich, so wie ich bin – so, wie auch ihr euch lieben könnt, wie immer ihr seid.«
Die Impulse für die Schule der Zukunft
1. Entscheidend ist die Richtung
Die Schulpflicht wird nicht morgen und auch nicht übermorgen aufgehoben. Sie wird erst dann beendet sein, wenn hierüber ein gesellschaftlicher Konsens besteht. Wann wird das sein? In wie vielen Generationen? Im Jahr 2050, 2100, 2200? Wenn die gesellschaftliche Situation so weit ist, dass allen Ernstes über die Aufhebung der Schulpflicht nachgedacht wird, wird es auf alle Fragen gute und überzeugende Antworten geben. Wir können nicht heute an einem einzigen Tag die Denkleistung eines halben oder ganzen Jahrhunderts zustande bringen. Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt, sagt Lao Tse.
Wenn die Richtung auf das selbstbestimmte Lernen einmal eingeschlagen ist, wenn ein gesellschaftlicher Konsens besteht, Kinder nicht mehr geistig zu versklaven, sondern mit ihnen in gegenseitigem Austausch zu leben, dann werden sich alle Details ergeben – Details, die heute noch nicht zu erkennen sind. Entscheidend ist die Richtung. Lernzentrum, Street-Teaching und Sommer-Seminar sind erste Überlegungen, wie die Erwachsenen mit den Kindern auch in der Frage ihres Lernens gleichwertig und freundlich zusammenleben können.
2. Lernzentrum:
1. Aufhebung des Lernzwangs
Es entfällt erstens der Zwang, überhaupt etwas lernen zu sollen, sowie zweitens der Zwang, etwas Bestimmtes lernen zu sollen. An die Stelle des Lernzwangs tritt das uneingeschränkte Recht auf Selbstbestimmung. Kinder entscheiden über die Lerninhalte und die Art ihres Lernens selbst.
2. Aufhebung der Schulpflicht
Die Schulpflicht wird durch das Recht, Lerninstitutionen besuchen zu können, ersetzt. Dieses Recht ist auch Eltern gegenüber durchsetzbar.
3. Aufhebung der Beurteilungsfunktion
Im Lernzentrum werden keine Beurteilungen durchgeführt.
4. Einführung des kinderloyalen Unterstützens
Der im Lernzentrum tätige Erwachsene ist ein kinderloyaler Unterstützer. Er steht als Vertrauter und Freund Kindern zur Seite und ist in seiner Arbeit unabhängig. Er ist für die Kinder als Person und fachlicher Experte da, wobei die personale Beziehung Vorrang hat.
5. Einführung amicativer Ausbildung
Der im Lernzentrum tätige Erwachsene erhält statt der pädagogischen eine amicative Ausbildung. Sie ist eine praktische Ausbildung mit Kindern.
6. Orientierung am »Haus der Offenen Tür«
Das Lernzentrum wird am Konzept »Haus der Offenen Tür« orientiert. Es ist ganztägig geöffnet, beschäftigt auch außerinstitutionelle Mitarbeiter und nimmt auch Funktionen eines Jugendzentrums wahr.
Soweit die Grundzüge einer Lerninstitution der Zukunft, sämtliche Details müssen noch überlegt und ergänzt werden. Es ist aber andererseits sehr die Frage, ob die Kinder überhaupt feste Einrichtungen aufsuchen werden. Werden die Kinder eine Schule wie das Lernzentrum annehmen? Wie oft sind sie da? Regelmäßig oder nur am Rande? Was sollte die Kinder veranlassen, zum Lernzentrum zu gehen? Die Lehrer? Das Angebot? Die Langeweile? Der Trend? Kinder leben ihr eigenes Leben, und das ist nur selten ein Leben nach der Uhr in einem Lernraum.
3. Street-Teatching
Die Kinder werden sich dort aufhalten, wo sie es jeweils wirklich wollen: Irgendwo in ihrem Wohnbereich, so wie es sich ergibt. Das kann das Lernzentrum sein, vielleicht für ein paar Stunden, oder auch nicht. Die Vermittlung des Wissens wird jedoch stets dort stattfinden, wo die Kinder real sind, vor Ort, bei ihnen. Und wenn es den Erwachsenen wichtig ist, Wissen zu vermitteln, werden sie es zu den Kindern bringen müssen, mit der nötigen Achtung und stets nur als Angebot. Und sie werden die Kinder nie mehr zwecks unerbetener Wissensvermittlung in die Schulen schaffen.
Die Schule der Zukunft wird sich auf die Kinder und ihre Art, dem Leben zu begegnen, einstellen. Die Erwachsenen werden also zu den Kindern hingehen und ihr Wissen mitbringen und vorstellen. Der Lehrer der Zukunft wird wie ein Streetworker arbeiten: als Street-Teacher. Er wird die Kinder an ihren Treffpunkten aufsuchen und seine Angebote dabeihaben. Er wird als Person und fachlicher Experte kommen, ohne pädagogische Absicht und List, authentisch, als Freund, als jemand, der dazugehört und der etwas zu bieten hat. Er wird sich nicht aufdrängen, aber auch nicht distanziert sein, er wird als Person seine eigene Position haben und sich durchaus auch verstricken lassen in den Alltag der Kinder, für die er eingeteilt ist. Herr Meier für die 6-8jährigen der Berliner Straße 1 bis 100, Frau Müller für die 6-8jährigen der Berliner Str. 101 bis 200, usw.
Vielleicht halten sich die Kinder und ihr Lehrer einige Zeit im Lernzentrum ihres Bezirks auf, vielleicht auch nicht. Vielleicht diskutieren sie ein Matheproblem vor dem Kaufladen, eine ethische Frage vor dem Kino. Vielleicht hören die Kinder zu, wenn er ihnen auf dem Spielplatz etwas über den Amazonas vorliest. Vielleicht malen sie zusammen ein Pflasterbild. Vielleicht machen sie nur einfach miteinander Lärm, mit Gitarre und Mülltonnenschlagzeug. Vielleicht überredet er sie zu einem Schreibspiel. Vielleicht akzeptieren sie seinen Vorschlag, einen Streit zu schlichten. Vielleicht reden sie einen Vormittag englisch miteinander, lesen einen Text von Mark Twain im Original, büffeln englische Grammatik und hören sich gegenseitig Vokabeln ab. Vielleicht lassen sie sich von ihm erklären, wie man eine Fahrkarte kauft. Vielleicht zeigt er ihnen einen Blitzableiter und sie kommen ins Gespräch über Elektrizität, Blitz und Donner. Das Leben ist voller Fragen und unzähliger Lernmöglichkeiten.
Street-Teaching wird eine sehr flexible Sache sein, mit einem spezifischen neuen Berufsbild und entsprechendem neuen Ethos. In diesem Beruf werden nur stabile Persönlichkeiten bestehen können, Menschen, die offen und freundlich, kreativ und von natürlicher Autorität sind. Diese Erwachsenen werden gut sein müssen, sehr gut, um vor den Kindern bestehen zu können. Und nur dann, wenn sie von den Kindern akzeptiert werden, ist ihr Einsatz gerechtfertigt.
Die Ausbildung zum Street-Teacher wird sich von der heutigen Lehrerausbildung deutlich unterscheiden, es müssen gänzlich neue Wege eingeschlagen werden. So werden die Lehrer während ihres Studiums mehr und mehr erfahren, wer sie selbst sind und wer Kinder sind: Sie werden sich selbst erkunden und in unmittelbarer Auseinandersetzung mit Kindern (wieder) erleben, was es bedeutet, ein Kind zu sein. Kongruenz, Akzeptanz und Empathie werden Schlüsselqualifikationen sein, auf einer postpädagogischen Basis. Die Lehrerstudenten werden wieder lernen zu spielen – ohne doppelten Boden, einfach mit Menschen zusammen sein, den Regeln des Augenblicks und der persönlichen Wahrhaftigkeit untergeordnet. Ihre fachliche Qualifikation wird dabei nur ein zusätzlicher Aspekt sein.
4. Sommer-Seminar
So könnte es zum Beispiel nach den Sommerferien 2015 das erste »Sommer-Seminar« eines Bundeslandes geben. Dieses Projekt wird seit 2010 zunächst an den Universitäten entwickelt und diskutiert, dann von den Medien aufgegriffen und steht lange Zeit in den Schlagzeilen. Schließlich reagiert die Politik, und nach einer gewonnenen Landtagswahl, in der es auch um das »Projekt Sommer-Seminar« ging, beschließt der Kultusminister, das Sommer-Seminar im Herbst 2015 zu realisieren:
Im Anschluß an die Sommerferien können die Kinder vier Wochen lang zur Schule gehen, müssen es aber nicht. Der Schulbesuch ist vier Wochen lang freigestellt, die Kinder entscheiden selbst, ob sie zur Schule gehen oder nicht. Die Lehrer sind da, jeden Tag, doch sie haben in diesen vier Wochen eine andere Aufgabe als sonst: Sie machen Angebote und stehen den Kindern für ihre Lernwünsche zur Verfügung. Die Angebote der Lehrer sind vielfältig, die Lehrer wurden in besonderen Weiterbildungsseminaren dafür eingehend geschult. Das Angebot einer Schule hängt sehr von den Ideen und der Initiative der jeweiligen Lehrerschaft ab, aber gerade die Vielfalt ist es auch, die das Projekt so interessant macht. Die Lehrer werden ermutigt, sich von ihren persönlichen Hobbys und Neigungen leiten zu lassen, wenn sie den Kindern diesen Monat als Lernhelfer zur Verfügung stehen. Denn dann, wenn sich ein Erwachsener wohl fühlt, wird ihn seine positive Einstellung beflügeln – er und die Kinder werden wesentlich mehr leisten als sonst. Überhaupt wird das gesamte Projekt mit viel psychologischer Überlegung begleitet, und Vorstellungen von Authentizität, persönlicher Wahrhaftigkeit und der Freiheit des Lernenden und des Lehrenden werden für viele zu neuen Leitideen.
Die Kinder reagieren auf das Angebot zunächst mit viel Skepsis, doch dann mit großer Begeisterung. Wie sich in den wissenschaftlichen Untersuchungen zeigt, die dem Sommer-Seminar 2015 folgen, hatte sich nämlich schnell herumgesprochen, dass die Schule so ganz anders war, dass die Lehrer völlig anders auftraten und dass es einfach riesigen Spaß machte, sich in der altgewohnten Zwangsanstalt ernst genommen und geachtet zu fühlen. Die Wissenschaftler sprechen von einer »Explosion des Wissens«, das in diesem einen Monat erfolgt sei, die Wirtschaft, die Handelskammern und die Industrieverbände reagieren auf das Sommer-Seminar optimistisch.
Die Schulpflicht wird nicht morgen und auch nicht übermorgen aufgehoben. Sie wird erst dann beendet sein, wenn hierüber ein gesellschaftlicher Konsens besteht. Wann wird das sein? In wie vielen Generationen? Im Jahr 2050, 2100, 2200? Wenn die gesellschaftliche Situation so weit ist, dass allen Ernstes über die Aufhebung der Schulpflicht nachgedacht wird, wird es auf alle Fragen gute und überzeugende Antworten geben. Wir können nicht heute an einem einzigen Tag die Denkleistung eines halben oder ganzen Jahrhunderts zustande bringen. Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt, sagt Lao Tse.
Wenn die Richtung auf das selbstbestimmte Lernen einmal eingeschlagen ist, wenn ein gesellschaftlicher Konsens besteht, Kinder nicht mehr geistig zu versklaven, sondern mit ihnen in gegenseitigem Austausch zu leben, dann werden sich alle Details ergeben – Details, die heute noch nicht zu erkennen sind. Entscheidend ist die Richtung. Lernzentrum, Street-Teaching und Sommer-Seminar sind erste Überlegungen, wie die Erwachsenen mit den Kindern auch in der Frage ihres Lernens gleichwertig und freundlich zusammenleben können.
2. Lernzentrum:
1. Aufhebung des Lernzwangs
Es entfällt erstens der Zwang, überhaupt etwas lernen zu sollen, sowie zweitens der Zwang, etwas Bestimmtes lernen zu sollen. An die Stelle des Lernzwangs tritt das uneingeschränkte Recht auf Selbstbestimmung. Kinder entscheiden über die Lerninhalte und die Art ihres Lernens selbst.
2. Aufhebung der Schulpflicht
Die Schulpflicht wird durch das Recht, Lerninstitutionen besuchen zu können, ersetzt. Dieses Recht ist auch Eltern gegenüber durchsetzbar.
3. Aufhebung der Beurteilungsfunktion
Im Lernzentrum werden keine Beurteilungen durchgeführt.
4. Einführung des kinderloyalen Unterstützens
Der im Lernzentrum tätige Erwachsene ist ein kinderloyaler Unterstützer. Er steht als Vertrauter und Freund Kindern zur Seite und ist in seiner Arbeit unabhängig. Er ist für die Kinder als Person und fachlicher Experte da, wobei die personale Beziehung Vorrang hat.
5. Einführung amicativer Ausbildung
Der im Lernzentrum tätige Erwachsene erhält statt der pädagogischen eine amicative Ausbildung. Sie ist eine praktische Ausbildung mit Kindern.
6. Orientierung am »Haus der Offenen Tür«
Das Lernzentrum wird am Konzept »Haus der Offenen Tür« orientiert. Es ist ganztägig geöffnet, beschäftigt auch außerinstitutionelle Mitarbeiter und nimmt auch Funktionen eines Jugendzentrums wahr.
Soweit die Grundzüge einer Lerninstitution der Zukunft, sämtliche Details müssen noch überlegt und ergänzt werden. Es ist aber andererseits sehr die Frage, ob die Kinder überhaupt feste Einrichtungen aufsuchen werden. Werden die Kinder eine Schule wie das Lernzentrum annehmen? Wie oft sind sie da? Regelmäßig oder nur am Rande? Was sollte die Kinder veranlassen, zum Lernzentrum zu gehen? Die Lehrer? Das Angebot? Die Langeweile? Der Trend? Kinder leben ihr eigenes Leben, und das ist nur selten ein Leben nach der Uhr in einem Lernraum.
3. Street-Teatching
Die Kinder werden sich dort aufhalten, wo sie es jeweils wirklich wollen: Irgendwo in ihrem Wohnbereich, so wie es sich ergibt. Das kann das Lernzentrum sein, vielleicht für ein paar Stunden, oder auch nicht. Die Vermittlung des Wissens wird jedoch stets dort stattfinden, wo die Kinder real sind, vor Ort, bei ihnen. Und wenn es den Erwachsenen wichtig ist, Wissen zu vermitteln, werden sie es zu den Kindern bringen müssen, mit der nötigen Achtung und stets nur als Angebot. Und sie werden die Kinder nie mehr zwecks unerbetener Wissensvermittlung in die Schulen schaffen.
Die Schule der Zukunft wird sich auf die Kinder und ihre Art, dem Leben zu begegnen, einstellen. Die Erwachsenen werden also zu den Kindern hingehen und ihr Wissen mitbringen und vorstellen. Der Lehrer der Zukunft wird wie ein Streetworker arbeiten: als Street-Teacher. Er wird die Kinder an ihren Treffpunkten aufsuchen und seine Angebote dabeihaben. Er wird als Person und fachlicher Experte kommen, ohne pädagogische Absicht und List, authentisch, als Freund, als jemand, der dazugehört und der etwas zu bieten hat. Er wird sich nicht aufdrängen, aber auch nicht distanziert sein, er wird als Person seine eigene Position haben und sich durchaus auch verstricken lassen in den Alltag der Kinder, für die er eingeteilt ist. Herr Meier für die 6-8jährigen der Berliner Straße 1 bis 100, Frau Müller für die 6-8jährigen der Berliner Str. 101 bis 200, usw.
Vielleicht halten sich die Kinder und ihr Lehrer einige Zeit im Lernzentrum ihres Bezirks auf, vielleicht auch nicht. Vielleicht diskutieren sie ein Matheproblem vor dem Kaufladen, eine ethische Frage vor dem Kino. Vielleicht hören die Kinder zu, wenn er ihnen auf dem Spielplatz etwas über den Amazonas vorliest. Vielleicht malen sie zusammen ein Pflasterbild. Vielleicht machen sie nur einfach miteinander Lärm, mit Gitarre und Mülltonnenschlagzeug. Vielleicht überredet er sie zu einem Schreibspiel. Vielleicht akzeptieren sie seinen Vorschlag, einen Streit zu schlichten. Vielleicht reden sie einen Vormittag englisch miteinander, lesen einen Text von Mark Twain im Original, büffeln englische Grammatik und hören sich gegenseitig Vokabeln ab. Vielleicht lassen sie sich von ihm erklären, wie man eine Fahrkarte kauft. Vielleicht zeigt er ihnen einen Blitzableiter und sie kommen ins Gespräch über Elektrizität, Blitz und Donner. Das Leben ist voller Fragen und unzähliger Lernmöglichkeiten.
Street-Teaching wird eine sehr flexible Sache sein, mit einem spezifischen neuen Berufsbild und entsprechendem neuen Ethos. In diesem Beruf werden nur stabile Persönlichkeiten bestehen können, Menschen, die offen und freundlich, kreativ und von natürlicher Autorität sind. Diese Erwachsenen werden gut sein müssen, sehr gut, um vor den Kindern bestehen zu können. Und nur dann, wenn sie von den Kindern akzeptiert werden, ist ihr Einsatz gerechtfertigt.
Die Ausbildung zum Street-Teacher wird sich von der heutigen Lehrerausbildung deutlich unterscheiden, es müssen gänzlich neue Wege eingeschlagen werden. So werden die Lehrer während ihres Studiums mehr und mehr erfahren, wer sie selbst sind und wer Kinder sind: Sie werden sich selbst erkunden und in unmittelbarer Auseinandersetzung mit Kindern (wieder) erleben, was es bedeutet, ein Kind zu sein. Kongruenz, Akzeptanz und Empathie werden Schlüsselqualifikationen sein, auf einer postpädagogischen Basis. Die Lehrerstudenten werden wieder lernen zu spielen – ohne doppelten Boden, einfach mit Menschen zusammen sein, den Regeln des Augenblicks und der persönlichen Wahrhaftigkeit untergeordnet. Ihre fachliche Qualifikation wird dabei nur ein zusätzlicher Aspekt sein.
4. Sommer-Seminar
So könnte es zum Beispiel nach den Sommerferien 2015 das erste »Sommer-Seminar« eines Bundeslandes geben. Dieses Projekt wird seit 2010 zunächst an den Universitäten entwickelt und diskutiert, dann von den Medien aufgegriffen und steht lange Zeit in den Schlagzeilen. Schließlich reagiert die Politik, und nach einer gewonnenen Landtagswahl, in der es auch um das »Projekt Sommer-Seminar« ging, beschließt der Kultusminister, das Sommer-Seminar im Herbst 2015 zu realisieren:
Im Anschluß an die Sommerferien können die Kinder vier Wochen lang zur Schule gehen, müssen es aber nicht. Der Schulbesuch ist vier Wochen lang freigestellt, die Kinder entscheiden selbst, ob sie zur Schule gehen oder nicht. Die Lehrer sind da, jeden Tag, doch sie haben in diesen vier Wochen eine andere Aufgabe als sonst: Sie machen Angebote und stehen den Kindern für ihre Lernwünsche zur Verfügung. Die Angebote der Lehrer sind vielfältig, die Lehrer wurden in besonderen Weiterbildungsseminaren dafür eingehend geschult. Das Angebot einer Schule hängt sehr von den Ideen und der Initiative der jeweiligen Lehrerschaft ab, aber gerade die Vielfalt ist es auch, die das Projekt so interessant macht. Die Lehrer werden ermutigt, sich von ihren persönlichen Hobbys und Neigungen leiten zu lassen, wenn sie den Kindern diesen Monat als Lernhelfer zur Verfügung stehen. Denn dann, wenn sich ein Erwachsener wohl fühlt, wird ihn seine positive Einstellung beflügeln – er und die Kinder werden wesentlich mehr leisten als sonst. Überhaupt wird das gesamte Projekt mit viel psychologischer Überlegung begleitet, und Vorstellungen von Authentizität, persönlicher Wahrhaftigkeit und der Freiheit des Lernenden und des Lehrenden werden für viele zu neuen Leitideen.
Die Kinder reagieren auf das Angebot zunächst mit viel Skepsis, doch dann mit großer Begeisterung. Wie sich in den wissenschaftlichen Untersuchungen zeigt, die dem Sommer-Seminar 2015 folgen, hatte sich nämlich schnell herumgesprochen, dass die Schule so ganz anders war, dass die Lehrer völlig anders auftraten und dass es einfach riesigen Spaß machte, sich in der altgewohnten Zwangsanstalt ernst genommen und geachtet zu fühlen. Die Wissenschaftler sprechen von einer »Explosion des Wissens«, das in diesem einen Monat erfolgt sei, die Wirtschaft, die Handelskammern und die Industrieverbände reagieren auf das Sommer-Seminar optimistisch.
Schule: Gegenwart
Kinder müssen zur Schule, sonst lernen sie nichts. Die Anmaßung und Menschenrechtsverletzung, die ein solcher Satz enthält, ist schwer zu erkennen und schwer zu erfühlen. Und doch kommt es gerade darauf an. Wie könnte es gelingen, das Nicht-mehr-Erkennen und das Nicht-mehr-Fühlen zu überwinden? Die folgenden Szenen aus meinem Schultagebuch sollen helfen, die verlorengegangene Sensibilität für die Würde des jungen Menschen und sein Recht auf selbstbestimmtes Lernen wiederzufinden.
Klassenarbeit
Es geht gleich los mit der Mathearbeit. Wird das mit der Arbeit inhuman? Wir schlendern in die Arbeit hinein, die Vorgeplänkel laufen ab. »Heute doch keine Arbeit. Heute ist doch Kirmes.« – »Was hat das denn damit zu tun?« Die Tische werden verrückt, ich teile die Arbeitsblätter aus. Dann kommt deutlich der erste Stress für mich, als einige ihre Zettel bereits beim Austeilen umdrehen und sich ansehen. Ich gehe dagegen vor, alle sollen zugleich anfangen, wenn jeder einen Zettel hat. Wegen gleicher Chancen. Mir ist unwohl, weil ich merke, dass einige es wieder tun, und ich schon sehr massiv intervenieren müsste. Ich lasse das dann, doch schon bin ich wieder genervt. Jetzt, 17.05 Uhr, denke ich so darüber: Ich hätte die Zettel von ihnen selbst verteilen lassen sollen und sofort den Start freigeben. Aber hätten sie dann auch dafür gesorgt, dass Leute an einem Tisch verschiedene Arbeiten erhalten? Ich habe zwei Arbeiten fertiggemacht, blau und gelb. Ich hätte doch wieder regulieren müssen – und auch das hätte mich genervt. Im Verlauf der Arbeit, die über zwei Stunden geht, wird es dann streckenweise sehr unruhig. Ich interveniere, Stress, Krieg. Aber es geht noch so. Ich bekomme mit, wie ihnen die Arbeit unter die Haut geht. Wenn sie über Nebensächlichkeiten laut reden (Bleistift, Radiergummi), schwingen Angst und Stress mit. Sie lassen das an diesen Dingen raus, über das Wichtige (die richtige Lösung oder einen Lösungsschritt) zu reden, ist ja verboten. Über Aufregung, Angst, Unbehagen, »Ich kann das nicht« zu reden ist nicht vorstellbar und überhaupt nicht vorgesehen. Als einer beim Reden seinen Kopf an den Arm seines Nachbarn kuschelt – da ist das für mich so bezeichnend. In all dieser Quälerei halten sie sich aneinander fest.
Schwimmunterricht
Frau M. redet auf Jutta ein, sie solle sich doch trauen, im Schwimmerbecken zu schwimmen. Jutta versucht und versucht, traut sich aber doch nicht. Es ist da ein ganz klarer, von Frau M. kommender Anspruch: »Los, schwimm, stell dich nicht so an, du kannst es, los endlich.« Es war nie Juttas Sache, das Schwimmen heute. Wie Frau M. die drei, die im tiefen Schwimmerbecken üben sollten, von den Nichtschwimmern absonderte, das war schon Stress, war schon kein Spiel mehr, war schon Anspruch mit der Möglichkeit des Versagens, war schon Schule. Frau M. lässt Jutta dann in Ruhe. Krasser Gegensatz: Die Nichtschwimmer, auch Jutta und die zwei anderen, spielten erst im Nichtschwimmerbecken, und sie versuchten dort für sich zu schwimmen. Warum kann Frau M. denn nicht mit denen das Schwimmen im tiefen Wasser spielen – statt es zu üben, Schule daraus zu machen? Geht nicht, ist nicht drin, überhaupt nicht und nicht in Frau M., systembedingt. Und dabei finde ich Frau M. sonst ganz nett zu den Kindern. Aber: »Sie wollen ja alle den Freischwimmer machen – da müssen sie schon mal ran.« Grausig, keine Kommunikation zu Jutta, ihren Ängsten, ihren Wünschen, ihren Ideen, ihren Vorschlägen, eben zu Jutta. Sie soll funktionieren, die Beine und Arme so und nicht anders bewegen, die Finger zusammen. Dann wird sie schwimmen können, dann kann sie den Freischwimmer erreichen. Schwimmen im schulischen Sinn. Aber was alles kann sie dann nicht! Sie selbst sein, selbst schwimmen. Jutta wird geschwommen. Nicht: Jutta bewegt sich selbst im Wasser – was selbstverständlich auch Schwimmen ist, was aber mit Schulsicht noch lange kein Schwimmen ist. Dort ist Schwimmen nicht Schwimmen, noch lange nicht. Jutta schwimmt – und ich merke, wie dieselben Worte einen verschiedenen Sinn haben, je nach Kontext. Dieselben Worte haben hier den Kontext, dass nicht mehr nach der Person gefragt wird, die schwimmt, sondern nach dem, was von dieser Person verlangt wird.
Abschlussrede
Nach drei Stunden, als alle im Kreis sitzen, fängt Jans an und liest seine Abschlussrede vor, aber frei, mit vielen Kommentaren und Zurufen. Sie ist nicht für Eltern oder Lehrer gemacht, sondern für seine Leute. Was ich höre, geht mich sehr an. Er sagt das, was ich über die Situation der Kinder in der Schule rausgefunden habe, was mir ernst ist und was nur so verschwindend wenige von denen, die als Erwachsene in der Schule arbeiten, als »wirklich so« akzeptieren. Für die anderen ist so was ja nur »dummes Kindergerede«. Ich spüre, dass das, was so leicht dahingesagt wird, sehr ernst gemeint ist, als Erfahrung ihrer Realität, als Wahrheit eben. Sie gehen alle mit der Rede leicht um. Aber es wird deutlich, worum es geht. Für mich ist es Ausdruck von tiefem Verletztsein und Betrogensein um die Jahre, die sie in der Schule zu sein gezwungen waren. Ich nehme die Rede von ihm ernst. Sie ist die Wahrheit der Kinder. Und ich meine, wer so etwas nicht versteht, wer keinen Zugang zu dem Inhalt so einer Rede hat, der versteht nie, was das für Kinder bedeutet: Schule.
Jans hatte seine Rede schon im Lagerfeuer verbrannt. Als ich ihn bitte, sie noch einmal aufzuschreiben, da tut er es gern. Die anderen helfen ihm dabei. Als ich von eventueller Veröffentlichung rede und ihn frage, ob er einverstanden sei, ist das für ihn in Ordnung. Aber ich merke auch, dass ihn das gar nicht mehr so interessiert. Es ist doch alles so klar. Und: Sie stehen vor Neuem – es ist so viel hinter ihnen. Ich aber verliere nicht aus dem Blick, dass sie um diese Lebenszeit betrogen wurden.
Die Abschlussrede
Freunde, es ist geschafft.?Zehn lange Jahre sind vorbei.?Mein herzlichstes Beileid möchte ich allerdings all denen wünschen, die noch länger in den sogenannten Schulen gefoltert werden.?Die letzten zehn Jahre waren die schlimmsten in unserem Leben.?Und werden es wohl auch bleiben.?Die Pauker haben uns dermaßen geschafft, dass manch einer sie gern vor ein Kriegsgericht stellen möchte.?Ich bin auch dafür, dass die Schulen, die Gebäude des Schreckens – Schule, das Wort, das bei Kindern wie ein Brechmittel wirkt –, abgeschafft werden. ?Aber nein, die Schulen werden noch vom Staat unterstützt. ?Doch freut euch, ihr, die ihr es geschafft habt. ?In Zukunft dürft ihr mit euren Bossen über Lohnerhöhung und seine Tochter streiten. ?Freut euch, es wird eine herrliche Zeit. ?Vergesst all das Böse, was euch in der Schule geschah, haltet die Ohren steif. ?Tschüß!
Klassenarbeit
Es geht gleich los mit der Mathearbeit. Wird das mit der Arbeit inhuman? Wir schlendern in die Arbeit hinein, die Vorgeplänkel laufen ab. »Heute doch keine Arbeit. Heute ist doch Kirmes.« – »Was hat das denn damit zu tun?« Die Tische werden verrückt, ich teile die Arbeitsblätter aus. Dann kommt deutlich der erste Stress für mich, als einige ihre Zettel bereits beim Austeilen umdrehen und sich ansehen. Ich gehe dagegen vor, alle sollen zugleich anfangen, wenn jeder einen Zettel hat. Wegen gleicher Chancen. Mir ist unwohl, weil ich merke, dass einige es wieder tun, und ich schon sehr massiv intervenieren müsste. Ich lasse das dann, doch schon bin ich wieder genervt. Jetzt, 17.05 Uhr, denke ich so darüber: Ich hätte die Zettel von ihnen selbst verteilen lassen sollen und sofort den Start freigeben. Aber hätten sie dann auch dafür gesorgt, dass Leute an einem Tisch verschiedene Arbeiten erhalten? Ich habe zwei Arbeiten fertiggemacht, blau und gelb. Ich hätte doch wieder regulieren müssen – und auch das hätte mich genervt. Im Verlauf der Arbeit, die über zwei Stunden geht, wird es dann streckenweise sehr unruhig. Ich interveniere, Stress, Krieg. Aber es geht noch so. Ich bekomme mit, wie ihnen die Arbeit unter die Haut geht. Wenn sie über Nebensächlichkeiten laut reden (Bleistift, Radiergummi), schwingen Angst und Stress mit. Sie lassen das an diesen Dingen raus, über das Wichtige (die richtige Lösung oder einen Lösungsschritt) zu reden, ist ja verboten. Über Aufregung, Angst, Unbehagen, »Ich kann das nicht« zu reden ist nicht vorstellbar und überhaupt nicht vorgesehen. Als einer beim Reden seinen Kopf an den Arm seines Nachbarn kuschelt – da ist das für mich so bezeichnend. In all dieser Quälerei halten sie sich aneinander fest.
Schwimmunterricht
Frau M. redet auf Jutta ein, sie solle sich doch trauen, im Schwimmerbecken zu schwimmen. Jutta versucht und versucht, traut sich aber doch nicht. Es ist da ein ganz klarer, von Frau M. kommender Anspruch: »Los, schwimm, stell dich nicht so an, du kannst es, los endlich.« Es war nie Juttas Sache, das Schwimmen heute. Wie Frau M. die drei, die im tiefen Schwimmerbecken üben sollten, von den Nichtschwimmern absonderte, das war schon Stress, war schon kein Spiel mehr, war schon Anspruch mit der Möglichkeit des Versagens, war schon Schule. Frau M. lässt Jutta dann in Ruhe. Krasser Gegensatz: Die Nichtschwimmer, auch Jutta und die zwei anderen, spielten erst im Nichtschwimmerbecken, und sie versuchten dort für sich zu schwimmen. Warum kann Frau M. denn nicht mit denen das Schwimmen im tiefen Wasser spielen – statt es zu üben, Schule daraus zu machen? Geht nicht, ist nicht drin, überhaupt nicht und nicht in Frau M., systembedingt. Und dabei finde ich Frau M. sonst ganz nett zu den Kindern. Aber: »Sie wollen ja alle den Freischwimmer machen – da müssen sie schon mal ran.« Grausig, keine Kommunikation zu Jutta, ihren Ängsten, ihren Wünschen, ihren Ideen, ihren Vorschlägen, eben zu Jutta. Sie soll funktionieren, die Beine und Arme so und nicht anders bewegen, die Finger zusammen. Dann wird sie schwimmen können, dann kann sie den Freischwimmer erreichen. Schwimmen im schulischen Sinn. Aber was alles kann sie dann nicht! Sie selbst sein, selbst schwimmen. Jutta wird geschwommen. Nicht: Jutta bewegt sich selbst im Wasser – was selbstverständlich auch Schwimmen ist, was aber mit Schulsicht noch lange kein Schwimmen ist. Dort ist Schwimmen nicht Schwimmen, noch lange nicht. Jutta schwimmt – und ich merke, wie dieselben Worte einen verschiedenen Sinn haben, je nach Kontext. Dieselben Worte haben hier den Kontext, dass nicht mehr nach der Person gefragt wird, die schwimmt, sondern nach dem, was von dieser Person verlangt wird.
Abschlussrede
Nach drei Stunden, als alle im Kreis sitzen, fängt Jans an und liest seine Abschlussrede vor, aber frei, mit vielen Kommentaren und Zurufen. Sie ist nicht für Eltern oder Lehrer gemacht, sondern für seine Leute. Was ich höre, geht mich sehr an. Er sagt das, was ich über die Situation der Kinder in der Schule rausgefunden habe, was mir ernst ist und was nur so verschwindend wenige von denen, die als Erwachsene in der Schule arbeiten, als »wirklich so« akzeptieren. Für die anderen ist so was ja nur »dummes Kindergerede«. Ich spüre, dass das, was so leicht dahingesagt wird, sehr ernst gemeint ist, als Erfahrung ihrer Realität, als Wahrheit eben. Sie gehen alle mit der Rede leicht um. Aber es wird deutlich, worum es geht. Für mich ist es Ausdruck von tiefem Verletztsein und Betrogensein um die Jahre, die sie in der Schule zu sein gezwungen waren. Ich nehme die Rede von ihm ernst. Sie ist die Wahrheit der Kinder. Und ich meine, wer so etwas nicht versteht, wer keinen Zugang zu dem Inhalt so einer Rede hat, der versteht nie, was das für Kinder bedeutet: Schule.
Jans hatte seine Rede schon im Lagerfeuer verbrannt. Als ich ihn bitte, sie noch einmal aufzuschreiben, da tut er es gern. Die anderen helfen ihm dabei. Als ich von eventueller Veröffentlichung rede und ihn frage, ob er einverstanden sei, ist das für ihn in Ordnung. Aber ich merke auch, dass ihn das gar nicht mehr so interessiert. Es ist doch alles so klar. Und: Sie stehen vor Neuem – es ist so viel hinter ihnen. Ich aber verliere nicht aus dem Blick, dass sie um diese Lebenszeit betrogen wurden.
Die Abschlussrede
Freunde, es ist geschafft.?Zehn lange Jahre sind vorbei.?Mein herzlichstes Beileid möchte ich allerdings all denen wünschen, die noch länger in den sogenannten Schulen gefoltert werden.?Die letzten zehn Jahre waren die schlimmsten in unserem Leben.?Und werden es wohl auch bleiben.?Die Pauker haben uns dermaßen geschafft, dass manch einer sie gern vor ein Kriegsgericht stellen möchte.?Ich bin auch dafür, dass die Schulen, die Gebäude des Schreckens – Schule, das Wort, das bei Kindern wie ein Brechmittel wirkt –, abgeschafft werden. ?Aber nein, die Schulen werden noch vom Staat unterstützt. ?Doch freut euch, ihr, die ihr es geschafft habt. ?In Zukunft dürft ihr mit euren Bossen über Lohnerhöhung und seine Tochter streiten. ?Freut euch, es wird eine herrliche Zeit. ?Vergesst all das Böse, was euch in der Schule geschah, haltet die Ohren steif. ?Tschüß!
Die wirkliche Macht der Eltern
1. Den Familienfrieden muss man nicht für die Schule aufs Spiel setzen.
Realismus, Humor, Entdramatisieren, aus der Situation heraus handeln. Sich klarmachen, dass es bei allem stürmischen Tamtam immer letztlich um einen selbst geht: »Was will ich selbst eigentlich in dieser Situation? Und was ist davon realistisch? Bin ich auf der Seite der Kinder oder der Lehrer? Mal so, mal so, was gilt jetzt?« Wenn das klarer ist, dann die Überlegung: Was lässt sich tun? So, dass das, was mir wichtig ist, ein bisschen mehr erreicht wird als ohne meine Intervention. Wichtig: Wie immer im Leben kann mir letztlich, existentiell gesehen niemand, auch die Schule nicht, natürlich nicht, Vorschriften machen. Alles hat Folgen, das ist banal, aber niemand kann mich wirklich zwingen. Der Chef meines Lebens bin und bleibe ich – egal, was mir da aus der Schule entgegenweht.
Schulische Anforderungen werden allermeist automatisch angenommen – und genau das ist nicht nötig. Die Schule ist die Schule, der Lehrer ist der Lehrer. Und ich bin ich. Der Friede in meinen eigenen vier Wänden wird nicht den Wünschen eines Lehrers oder den immer so absolut daherkommenden Anforderungen der Schule geopfert. Natürlich, die Lehrer haben ihre eigenen Wünsche und Nöte, und für sie ist es eben nahe liegend, die Eltern immer wieder vor ihren Karren zu spannen. Kein Vorwurf. Nur: Über das Mitziehen entscheide ich als Vater oder Mutter allein. In Abwägung immer derselben Möglichkeiten: Entlastet oder belastet meine Entscheidung mein Kind? Gibt es mehr Ärger oder weniger? Wie stehe ich da? Wie steht mein Kind da? Wie steht der Lehrer da? Hat meine Entscheidung Auswirkungen auf Noten, Versetzung, Schulerfolg? Ich finde, dass jeder das Recht hat, sich da seine ganz eigene Suppe zu kochen, und zwar mit den eigenen Zutaten. Es gibt kein Einheitsrezept für alle, sondern nur individuelle, private Rezepte. Ich ermutige zum Kochen der eigenen Schulsuppe. Ich jedenfalls habe mir so manches Süppchen zum eigenen Wohlergehen und dem meiner Kinder gebraut.
Ein Lehrerbesuch? Teilnahme am Elternabend? Hingehen zum Elternsprechtag? Eine Unterschrift? Eine »dringend empfohlene Aussprache mit meinem Kind«? Nichts ist zwingend, nichts muss wirklich sein. Eltern sind schnell bereit, folgsam zu sein, wenn »die Schule« etwas von ihnen will. Aber bitte: Wir sind keine abhängigen Schüler mehr! Das kann man sich klarmachen, und das sage ich den Eltern auch. Wenn sie sich abhängig und wehrlos fühlen, wenn sie eingeschüchtert sind, weil es ihrem Kind sonst schlecht in der Schule geht, und sie schon wissen, wie es sein müsste, nur dass sie sich nicht trauen: Nun gut, dagegen ist auch nichts zu sagen, es entspricht ja nur ihren Möglichkeiten, und verzagte Eltern anzutreiben finde ich einfach unwürdig, und außerdem bringt es nichts. Wer verzagt ist, ist verzagt. Nur, dass mir dann keine Hilfe mehr einfällt, außer zu sagen, dass das ja auch nicht weiter schlimm ist. Und dies, die uneingeschränkte Akzeptanz der real existierenden Hilflosigkeit, ist dann Hilfe genug. Das Leben geht weiter, auch dann, wenn man sich um seiner Kinder willen verbeugt. »Ja, ich bin hilflos und ordne mich diesem Unsinn der Schule unter« – das lässt sich auch sehr selbstbewusst sagen.
Die wirkliche Macht der Eltern liegt nicht in einer Einwirkung auf die Schule. Die offiziellen Mitwirkungsmöglichkeiten der Eltern sind Augenwischerei, und dass so wenig Eltern sich in den schulischen Dingen engagieren, und dass die wenigen, die es tun, dies nicht sehr lange tun, ist beredt genug und zeigt den Realitätssinn der Eltern. Wenn es wirklich wichtig wird, hat die Schule immer mehr Macht: So ist die Struktur und so ist das Gesetz, und das wird so bleiben, bis sich – irgendwann einmal – Struktur und Gesetz ändern. Die wirkliche Macht der Eltern liegt in dem, was sie in allem und jedem, was mit der Schule zusammenhängt, zu Hause tun können. Denn so, wie die Möglichkeiten der Eltern am Schultor aufhören, hören auch die Möglichkeiten der Schule an eben diesem Tor auf.
Niemals kann die Schule, kann der Lehrer Meier, kann die Lehrerin Müller tatsächlich zwischen mich und mein Kind kommen. Ich gestalte die Beziehung zu meinem Kind nach meinen eigenen Regeln, aus und fertig. Die Freundlichkeit zu den Kindern, die jeder aus der schulfreien Zeit kennt, vom ersten bis zum letzten Ferientag, die lässt sich durchaus auch in der Schulzeit bewahren. Niemand kann das wirklich verhindern, und es ist auch nicht verboten, zu seinen Kindern freundlich zu sein und freundlich zu bleiben, auch beim Thema Schule. Den Familienfrieden muss man nicht für die Schule aufs Spiel setzen. Man muss nicht – aber es passiert, dauernd, natürlich, weil freundliche und friedliche Eltern-Schulkind-Beziehungen die Arbeit der Lehrer behindern und unterwandern können. Klar, dass der gestresste Lehrer die Eltern als Verbündete gegen das unwillige Schulkind gewinnen möchte. Sein gutes Recht. Aber klar ist auch, und ebenfalls gutes Recht, dass das niemand mit sich machen lassen muss.
2. Emanzipation von der Schule
Es ist für mich immer die einfache Frage gewesen: Auf welcher Seite stehe ich eigentlich? Und dann gab es immer eine klare Antwort: auf meiner! Und zu mir gehören meine Kinder, nicht aber Herr Meier und Frau Müller. Wenn man das einmal tief in sich überlegt und verstanden hat, gibt es ein Aufatmen, und das Drama Schule wird ganz einfach kleiner. Dahin kann man kommen, wenn man will. Man muss sich damit aber auch keinen Stress machen, und wer meint, die Lehrer seinen Kindern immer wieder mal oder öfter vorziehen zu müssen – kein Thema. Dennoch: Jeder Tag ist eine neue Chance, sich von der Schule und ihrem Zugriff auf die Familie zu emanzipieren.
Es gibt auch Eltern, die setzen die Schule mit ihren großen und kleinen Schrecken gezielt ein, um die Kinder zu Hause zu disziplinieren. Wie den Schwarzen Mann, Knecht Ruprecht oder den Teufel. Dazu fällt mir nichts ein, außer dass ich die Hilflosigkeit dieser Eltern sehe, auch ihnen keinen Vorwurf mache und denke, dass die Kinder auch derartige Manöver überleben werden. Solche Eltern lassen sich von meinen Gedanken zum Thema Schule nur schwer oder überhaupt nicht erreichen. Das gehört dazu. Ebenso wie die Eltern, die ihre Kinder gern zur Schule schicken, weil sie vom Wert der Schule überzeugt sind und weil sie kein Gespür für das Unrecht der Schule haben. Ich schreibe nicht für alle Eltern, sondern nur für die, die einen so tiefen Respekt vor der Würde ihrer Kinder haben, dass sie leiden, wenn sie mit ansehen müssen, was in der Schule mit ihren stolzen Rittern und Prinzessinnen geschieht, wie ihr Königtum an »Subjekt, Prädikat, Objekt« und an »(a + b) · (a + b)« ge- und zerbrochen wird.
Die Schule ist eine Institution, die ganz und gar unabhängig von uns existiert. Wir sind immer konkrete Menschen, und das heißt für die Eltern und die Kinder: dieser Vater, diese Mutter, diese Kinder. Unabhängig von uns als Familie existiert viel in der Welt: Die Kneipe nebenan, das Stadttheater, der Bundestag, und eben auch die Müller-Schule in der Meierstraße und die Meier-Schule in der Müllerstraße. Klar, das hat auch etwas mit uns zu tun, denn wir gehen ja in die Kneipe und ins Theater, wir wählen das Parlament und schicken die Kinder zur Schule. Aber es ist eben auch wahr, und das zu übersehen macht die Macht der Schule aus, dass diese Institution, die Schule, jede Schule zunächst einmal mit uns nichts, aber auch ganz und gar nichts zu tun hat. Die Schulgesetze: nicht von uns beschlossen. Der Lehrer: nicht von uns bestellt. Die Schulordnung: nicht von uns in Auftrag gegeben. Die Lehrpläne: nicht unsere Erfindung. Methodik, Didaktik, Motivation, Evaluation und das ganze weitere depersonalisierende pädagogische Brimborium: weiß Gott nicht unsere Sache. Nichts, aber auch gar nichts ist von der Schule auf unser Konto zu buchen. Wir hier – die Schule dort.
So – und von dieser radikalen, grundsätzlichen und wesentlichen Unterscheidung aus sehe ich mir an, was das dort denn ist, die Schule, wie sie strukturiert ist, was sie will, was sie bewirkt. Und von daher kommt meine Entschlossenheit, für meine Kinder einzustehen und den Anforderungen der Schule immer wieder mit Verwunderung zu begegnen: »Tatsächlich – das hat der Lehrer gesagt? Was hat er sich dabei eigentlich gedacht?« Immer wieder. Und von daher kommen dann meine Reaktionen, mein Umgang mit dem Merkwürdigen da draußen – das Schule heißt und durch das ich selbst damals, zu meiner Zeit, durchwanderte, durch musste. Exotisch schon damals, eine seltsame Erfindung, umgeben von der Aura des Absoluten, wie Sonne, Mond und Sterne. Nur: Dass ich heute diese Fiktion sehe, als Erwachsener darum weiß, dass die Schule eben nicht als göttlich Ding vom Himmel auf die Erde gekommen ist, sondern ein ganz und gar menschlich Ding ist, ersonnen und gemacht von Menschen wie du und ich, und dass man das alles gänzlich anders sehen kann.
Ich lade also jeden ein, sich von der Schulideologie zu befreien. Big Brother, das Kuckucksnest, Truman’s World zu verlassen, diese gläserne Glocke, die Kinder leibhaftig einfängt, niemals wirklich entlässt, sondern sie als groß gewordene Kinder lebenslang gefangen hält. Schule muss nicht sein! Sollte sie sein? Jeder von uns gibt hier seine eigene Antwort. Ein Tipp für Unentschlossene: Fragen Sie die Kinder, ein halbes Jahr nach der Zuckertüte. Sie kennen noch den Zusammenhang, wissen noch um das, was möglich ist, sie haben es noch im Blick, was Leben ohne Schule heißt.
3. Die eigenen Antworten
Dies alles zu wissen macht sehr sicher, die eigenen, aus der familiären Situation kommenden Antworten zu finden. Keine Hausaufgaben gemacht? »Ran an die Arbeit« oder »Dann lass es eben«. Ein Brief, dass mein Kind sich in der Schule nicht benimmt? Wozu sollte es sich benehmen? Und was heißt eigentlich »Benehmen« in der Schule? Schlägt es andere Kinder? Vielleicht war das wichtig und richtig. Redet es zu laut im Unterricht? Vielleicht war das wichtig und richtig. Tut es nicht, was der Lehrer will? Vielleicht war das wichtig und richtig. Jeder Mensch, auch jeder junge Mensch, auch jedes Kind in der Schule tut immer etwas Sinnvolles, mit Grund, aus seiner eigenen, individuellen Schlüssigkeit und Weltdeutung heraus. Das interessiert mich. Also: Warum keine Hausaufgaben? Was führte zur Schlägerei? Zu Gegenreden? Ich liebe mein Kind und ich freue mich, wenn ich es mehr und mehr und immer wieder neu verstehen lerne. Soll ich mein Kind korrigieren um der Schule willen? Soll ich einen lebendigen Menschen korrigieren, weil Herr Meier das gern so von mir hätte? Wer bin ich denn?
Die Anmaßung, Menschen zu formen, habe ich Lichtjahre hinter mir gelassen. Klar – wenn es mir zuviel wird, was da an Ärger auf mich zurollt, kann ich immer meine Grenzen ziehen und mein Kind so beeinflussen, dass der Ärger erträglich bleibt. Ich kann mich notfalls immer auch der Schule unterwerfen: Ohne Hausaufgaben – kein Taschengeld. Ohne Entschuldigung bei Herrn Meier – Fernsehverbot. Ich kann in die Trickkiste greifen, um mich selbst zu schützen. Ich kann, aber ich muss es nicht, und wenn ich nicht anders kann, dann immer mit Klartext zwischen den Zeilen: Dass ich dazu niemals das Recht habe in dem Sinn, dass ich die richtigere und bessere Position vertrete, sondern nur in dem Sinn, dass ich mich schützen will und deswegen jetzt diese Machtmittel anwende. Dass ich mich nicht moralisch überlegen im Recht weiß und Zustimmung einfordere: »Sieh das ein!«, sondern dass ich mir jetzt gerade nur so zu helfen weiß: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders!« Die Kinder erleben dann ihre Niederlage nicht verschleiert (»Zu deinem eigenen Besten!«), sondern als Ausdruck meiner Hilflosigkeit. Deswegen ist es immer noch unangenehm, aber ohne die demütigende psychische Verletzung, die die innere Unterwerfung des Kindes will und diese Unterwerfung dann als »Einsicht« preist.
Ein wirklicher Verbündeter der Schule werde ich damit nicht, ich bin dann vielmehr ein Sklave im System Schule, der die Peitsche gegen die eigenen Kinder zu schwingen hat, und dazu bekenne ich mich dann auch, mit dem Stoßseufzer: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«. Und morgen ist ein neuer Tag, mit neuer Kraft und neuem Schwung, um die Last, die den Kindern durch die Schule aufgebürdet wird, wieder tragen zu helfen.
Keine Hausaufgaben? »Zeig mal, ich helfe dir« oder »Gib her, ich mache das heute für dich«. Schlägerei in der Schule? »Komm, wir gehen Eis essen und fertig.« Unverschämtheiten zum Lehrer? »Selbstverständlich hast du das Recht, ihm deine Meinung zu sagen, und wenn du aufgebracht bist, auch mit diesen Worten. Er muss höflich sein, denn er ist freiwillig und für viel Geld in der Schule – du bist gezwungen. Du hast alles Recht der Welt, dich in der Schule deiner Lehrer zu erwehren. Vielleicht war es nicht so klug, weil er dir jetzt irgendwo etwas reinwürgt, aber man kann nicht immer klug sein. Ich kann ihn anrufen, wenn du willst, und die Wogen glätten.«
Man kann so viel an Entlastung für die Kinder jeden Tag tun, nachmittags, wenn sie zu Hause sind, oder auch morgens, bevor es los geht. Psychisch und auch konkret. Beispiel: Ich kann den Ranzen meiner Kinder abends tiptop fertig machen, wie ein Butler – was ist dabei? Die Windeln wechsele ich auch, und eine Schultasche stinkt nicht einmal. Die Kinder gehen morgen früh wieder in die Sklaverei, da werde ich doch wohl ihren widerlichen Lastsack versorgen können. Sollen sie sich dieses Symbol ihrer Demütigung auch noch selbst zurechtlegen, womöglich auch noch »ordentlich«? Die Bücher, Hefte, Stifte, Zeichenblock, das ganze Drumrum kann ich versorgen, als technischer Direktor. Und ich stecke die Micky Maus oder den Game Boy einfach mit dazu. Klar, wenn die Kinder ihre Tasche allein packen wollen, ist es ja kein Thema. Aber es sind doch auch Lasten, die die Kinder zusätzlich zur Schulzeit noch in ihrem Privatbereich aufgebürdet bekommen, von den Hausaufgaben ganz zu schweigen. Hier, in der familiären Situation, in der Zeit zu Hause, vor dem Unterricht und nach dem Unterricht, kann ich erwachsenenhaft-effektiv managen und unterstützen, damit die Kinder mehr Zeit und mehr Glück für sich haben.
Realismus, Humor, Entdramatisieren, aus der Situation heraus handeln. Sich klarmachen, dass es bei allem stürmischen Tamtam immer letztlich um einen selbst geht: »Was will ich selbst eigentlich in dieser Situation? Und was ist davon realistisch? Bin ich auf der Seite der Kinder oder der Lehrer? Mal so, mal so, was gilt jetzt?« Wenn das klarer ist, dann die Überlegung: Was lässt sich tun? So, dass das, was mir wichtig ist, ein bisschen mehr erreicht wird als ohne meine Intervention. Wichtig: Wie immer im Leben kann mir letztlich, existentiell gesehen niemand, auch die Schule nicht, natürlich nicht, Vorschriften machen. Alles hat Folgen, das ist banal, aber niemand kann mich wirklich zwingen. Der Chef meines Lebens bin und bleibe ich – egal, was mir da aus der Schule entgegenweht.
Schulische Anforderungen werden allermeist automatisch angenommen – und genau das ist nicht nötig. Die Schule ist die Schule, der Lehrer ist der Lehrer. Und ich bin ich. Der Friede in meinen eigenen vier Wänden wird nicht den Wünschen eines Lehrers oder den immer so absolut daherkommenden Anforderungen der Schule geopfert. Natürlich, die Lehrer haben ihre eigenen Wünsche und Nöte, und für sie ist es eben nahe liegend, die Eltern immer wieder vor ihren Karren zu spannen. Kein Vorwurf. Nur: Über das Mitziehen entscheide ich als Vater oder Mutter allein. In Abwägung immer derselben Möglichkeiten: Entlastet oder belastet meine Entscheidung mein Kind? Gibt es mehr Ärger oder weniger? Wie stehe ich da? Wie steht mein Kind da? Wie steht der Lehrer da? Hat meine Entscheidung Auswirkungen auf Noten, Versetzung, Schulerfolg? Ich finde, dass jeder das Recht hat, sich da seine ganz eigene Suppe zu kochen, und zwar mit den eigenen Zutaten. Es gibt kein Einheitsrezept für alle, sondern nur individuelle, private Rezepte. Ich ermutige zum Kochen der eigenen Schulsuppe. Ich jedenfalls habe mir so manches Süppchen zum eigenen Wohlergehen und dem meiner Kinder gebraut.
Ein Lehrerbesuch? Teilnahme am Elternabend? Hingehen zum Elternsprechtag? Eine Unterschrift? Eine »dringend empfohlene Aussprache mit meinem Kind«? Nichts ist zwingend, nichts muss wirklich sein. Eltern sind schnell bereit, folgsam zu sein, wenn »die Schule« etwas von ihnen will. Aber bitte: Wir sind keine abhängigen Schüler mehr! Das kann man sich klarmachen, und das sage ich den Eltern auch. Wenn sie sich abhängig und wehrlos fühlen, wenn sie eingeschüchtert sind, weil es ihrem Kind sonst schlecht in der Schule geht, und sie schon wissen, wie es sein müsste, nur dass sie sich nicht trauen: Nun gut, dagegen ist auch nichts zu sagen, es entspricht ja nur ihren Möglichkeiten, und verzagte Eltern anzutreiben finde ich einfach unwürdig, und außerdem bringt es nichts. Wer verzagt ist, ist verzagt. Nur, dass mir dann keine Hilfe mehr einfällt, außer zu sagen, dass das ja auch nicht weiter schlimm ist. Und dies, die uneingeschränkte Akzeptanz der real existierenden Hilflosigkeit, ist dann Hilfe genug. Das Leben geht weiter, auch dann, wenn man sich um seiner Kinder willen verbeugt. »Ja, ich bin hilflos und ordne mich diesem Unsinn der Schule unter« – das lässt sich auch sehr selbstbewusst sagen.
Die wirkliche Macht der Eltern liegt nicht in einer Einwirkung auf die Schule. Die offiziellen Mitwirkungsmöglichkeiten der Eltern sind Augenwischerei, und dass so wenig Eltern sich in den schulischen Dingen engagieren, und dass die wenigen, die es tun, dies nicht sehr lange tun, ist beredt genug und zeigt den Realitätssinn der Eltern. Wenn es wirklich wichtig wird, hat die Schule immer mehr Macht: So ist die Struktur und so ist das Gesetz, und das wird so bleiben, bis sich – irgendwann einmal – Struktur und Gesetz ändern. Die wirkliche Macht der Eltern liegt in dem, was sie in allem und jedem, was mit der Schule zusammenhängt, zu Hause tun können. Denn so, wie die Möglichkeiten der Eltern am Schultor aufhören, hören auch die Möglichkeiten der Schule an eben diesem Tor auf.
Niemals kann die Schule, kann der Lehrer Meier, kann die Lehrerin Müller tatsächlich zwischen mich und mein Kind kommen. Ich gestalte die Beziehung zu meinem Kind nach meinen eigenen Regeln, aus und fertig. Die Freundlichkeit zu den Kindern, die jeder aus der schulfreien Zeit kennt, vom ersten bis zum letzten Ferientag, die lässt sich durchaus auch in der Schulzeit bewahren. Niemand kann das wirklich verhindern, und es ist auch nicht verboten, zu seinen Kindern freundlich zu sein und freundlich zu bleiben, auch beim Thema Schule. Den Familienfrieden muss man nicht für die Schule aufs Spiel setzen. Man muss nicht – aber es passiert, dauernd, natürlich, weil freundliche und friedliche Eltern-Schulkind-Beziehungen die Arbeit der Lehrer behindern und unterwandern können. Klar, dass der gestresste Lehrer die Eltern als Verbündete gegen das unwillige Schulkind gewinnen möchte. Sein gutes Recht. Aber klar ist auch, und ebenfalls gutes Recht, dass das niemand mit sich machen lassen muss.
2. Emanzipation von der Schule
Es ist für mich immer die einfache Frage gewesen: Auf welcher Seite stehe ich eigentlich? Und dann gab es immer eine klare Antwort: auf meiner! Und zu mir gehören meine Kinder, nicht aber Herr Meier und Frau Müller. Wenn man das einmal tief in sich überlegt und verstanden hat, gibt es ein Aufatmen, und das Drama Schule wird ganz einfach kleiner. Dahin kann man kommen, wenn man will. Man muss sich damit aber auch keinen Stress machen, und wer meint, die Lehrer seinen Kindern immer wieder mal oder öfter vorziehen zu müssen – kein Thema. Dennoch: Jeder Tag ist eine neue Chance, sich von der Schule und ihrem Zugriff auf die Familie zu emanzipieren.
Es gibt auch Eltern, die setzen die Schule mit ihren großen und kleinen Schrecken gezielt ein, um die Kinder zu Hause zu disziplinieren. Wie den Schwarzen Mann, Knecht Ruprecht oder den Teufel. Dazu fällt mir nichts ein, außer dass ich die Hilflosigkeit dieser Eltern sehe, auch ihnen keinen Vorwurf mache und denke, dass die Kinder auch derartige Manöver überleben werden. Solche Eltern lassen sich von meinen Gedanken zum Thema Schule nur schwer oder überhaupt nicht erreichen. Das gehört dazu. Ebenso wie die Eltern, die ihre Kinder gern zur Schule schicken, weil sie vom Wert der Schule überzeugt sind und weil sie kein Gespür für das Unrecht der Schule haben. Ich schreibe nicht für alle Eltern, sondern nur für die, die einen so tiefen Respekt vor der Würde ihrer Kinder haben, dass sie leiden, wenn sie mit ansehen müssen, was in der Schule mit ihren stolzen Rittern und Prinzessinnen geschieht, wie ihr Königtum an »Subjekt, Prädikat, Objekt« und an »(a + b) · (a + b)« ge- und zerbrochen wird.
Die Schule ist eine Institution, die ganz und gar unabhängig von uns existiert. Wir sind immer konkrete Menschen, und das heißt für die Eltern und die Kinder: dieser Vater, diese Mutter, diese Kinder. Unabhängig von uns als Familie existiert viel in der Welt: Die Kneipe nebenan, das Stadttheater, der Bundestag, und eben auch die Müller-Schule in der Meierstraße und die Meier-Schule in der Müllerstraße. Klar, das hat auch etwas mit uns zu tun, denn wir gehen ja in die Kneipe und ins Theater, wir wählen das Parlament und schicken die Kinder zur Schule. Aber es ist eben auch wahr, und das zu übersehen macht die Macht der Schule aus, dass diese Institution, die Schule, jede Schule zunächst einmal mit uns nichts, aber auch ganz und gar nichts zu tun hat. Die Schulgesetze: nicht von uns beschlossen. Der Lehrer: nicht von uns bestellt. Die Schulordnung: nicht von uns in Auftrag gegeben. Die Lehrpläne: nicht unsere Erfindung. Methodik, Didaktik, Motivation, Evaluation und das ganze weitere depersonalisierende pädagogische Brimborium: weiß Gott nicht unsere Sache. Nichts, aber auch gar nichts ist von der Schule auf unser Konto zu buchen. Wir hier – die Schule dort.
So – und von dieser radikalen, grundsätzlichen und wesentlichen Unterscheidung aus sehe ich mir an, was das dort denn ist, die Schule, wie sie strukturiert ist, was sie will, was sie bewirkt. Und von daher kommt meine Entschlossenheit, für meine Kinder einzustehen und den Anforderungen der Schule immer wieder mit Verwunderung zu begegnen: »Tatsächlich – das hat der Lehrer gesagt? Was hat er sich dabei eigentlich gedacht?« Immer wieder. Und von daher kommen dann meine Reaktionen, mein Umgang mit dem Merkwürdigen da draußen – das Schule heißt und durch das ich selbst damals, zu meiner Zeit, durchwanderte, durch musste. Exotisch schon damals, eine seltsame Erfindung, umgeben von der Aura des Absoluten, wie Sonne, Mond und Sterne. Nur: Dass ich heute diese Fiktion sehe, als Erwachsener darum weiß, dass die Schule eben nicht als göttlich Ding vom Himmel auf die Erde gekommen ist, sondern ein ganz und gar menschlich Ding ist, ersonnen und gemacht von Menschen wie du und ich, und dass man das alles gänzlich anders sehen kann.
Ich lade also jeden ein, sich von der Schulideologie zu befreien. Big Brother, das Kuckucksnest, Truman’s World zu verlassen, diese gläserne Glocke, die Kinder leibhaftig einfängt, niemals wirklich entlässt, sondern sie als groß gewordene Kinder lebenslang gefangen hält. Schule muss nicht sein! Sollte sie sein? Jeder von uns gibt hier seine eigene Antwort. Ein Tipp für Unentschlossene: Fragen Sie die Kinder, ein halbes Jahr nach der Zuckertüte. Sie kennen noch den Zusammenhang, wissen noch um das, was möglich ist, sie haben es noch im Blick, was Leben ohne Schule heißt.
3. Die eigenen Antworten
Dies alles zu wissen macht sehr sicher, die eigenen, aus der familiären Situation kommenden Antworten zu finden. Keine Hausaufgaben gemacht? »Ran an die Arbeit« oder »Dann lass es eben«. Ein Brief, dass mein Kind sich in der Schule nicht benimmt? Wozu sollte es sich benehmen? Und was heißt eigentlich »Benehmen« in der Schule? Schlägt es andere Kinder? Vielleicht war das wichtig und richtig. Redet es zu laut im Unterricht? Vielleicht war das wichtig und richtig. Tut es nicht, was der Lehrer will? Vielleicht war das wichtig und richtig. Jeder Mensch, auch jeder junge Mensch, auch jedes Kind in der Schule tut immer etwas Sinnvolles, mit Grund, aus seiner eigenen, individuellen Schlüssigkeit und Weltdeutung heraus. Das interessiert mich. Also: Warum keine Hausaufgaben? Was führte zur Schlägerei? Zu Gegenreden? Ich liebe mein Kind und ich freue mich, wenn ich es mehr und mehr und immer wieder neu verstehen lerne. Soll ich mein Kind korrigieren um der Schule willen? Soll ich einen lebendigen Menschen korrigieren, weil Herr Meier das gern so von mir hätte? Wer bin ich denn?
Die Anmaßung, Menschen zu formen, habe ich Lichtjahre hinter mir gelassen. Klar – wenn es mir zuviel wird, was da an Ärger auf mich zurollt, kann ich immer meine Grenzen ziehen und mein Kind so beeinflussen, dass der Ärger erträglich bleibt. Ich kann mich notfalls immer auch der Schule unterwerfen: Ohne Hausaufgaben – kein Taschengeld. Ohne Entschuldigung bei Herrn Meier – Fernsehverbot. Ich kann in die Trickkiste greifen, um mich selbst zu schützen. Ich kann, aber ich muss es nicht, und wenn ich nicht anders kann, dann immer mit Klartext zwischen den Zeilen: Dass ich dazu niemals das Recht habe in dem Sinn, dass ich die richtigere und bessere Position vertrete, sondern nur in dem Sinn, dass ich mich schützen will und deswegen jetzt diese Machtmittel anwende. Dass ich mich nicht moralisch überlegen im Recht weiß und Zustimmung einfordere: »Sieh das ein!«, sondern dass ich mir jetzt gerade nur so zu helfen weiß: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders!« Die Kinder erleben dann ihre Niederlage nicht verschleiert (»Zu deinem eigenen Besten!«), sondern als Ausdruck meiner Hilflosigkeit. Deswegen ist es immer noch unangenehm, aber ohne die demütigende psychische Verletzung, die die innere Unterwerfung des Kindes will und diese Unterwerfung dann als »Einsicht« preist.
Ein wirklicher Verbündeter der Schule werde ich damit nicht, ich bin dann vielmehr ein Sklave im System Schule, der die Peitsche gegen die eigenen Kinder zu schwingen hat, und dazu bekenne ich mich dann auch, mit dem Stoßseufzer: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«. Und morgen ist ein neuer Tag, mit neuer Kraft und neuem Schwung, um die Last, die den Kindern durch die Schule aufgebürdet wird, wieder tragen zu helfen.
Keine Hausaufgaben? »Zeig mal, ich helfe dir« oder »Gib her, ich mache das heute für dich«. Schlägerei in der Schule? »Komm, wir gehen Eis essen und fertig.« Unverschämtheiten zum Lehrer? »Selbstverständlich hast du das Recht, ihm deine Meinung zu sagen, und wenn du aufgebracht bist, auch mit diesen Worten. Er muss höflich sein, denn er ist freiwillig und für viel Geld in der Schule – du bist gezwungen. Du hast alles Recht der Welt, dich in der Schule deiner Lehrer zu erwehren. Vielleicht war es nicht so klug, weil er dir jetzt irgendwo etwas reinwürgt, aber man kann nicht immer klug sein. Ich kann ihn anrufen, wenn du willst, und die Wogen glätten.«
Man kann so viel an Entlastung für die Kinder jeden Tag tun, nachmittags, wenn sie zu Hause sind, oder auch morgens, bevor es los geht. Psychisch und auch konkret. Beispiel: Ich kann den Ranzen meiner Kinder abends tiptop fertig machen, wie ein Butler – was ist dabei? Die Windeln wechsele ich auch, und eine Schultasche stinkt nicht einmal. Die Kinder gehen morgen früh wieder in die Sklaverei, da werde ich doch wohl ihren widerlichen Lastsack versorgen können. Sollen sie sich dieses Symbol ihrer Demütigung auch noch selbst zurechtlegen, womöglich auch noch »ordentlich«? Die Bücher, Hefte, Stifte, Zeichenblock, das ganze Drumrum kann ich versorgen, als technischer Direktor. Und ich stecke die Micky Maus oder den Game Boy einfach mit dazu. Klar, wenn die Kinder ihre Tasche allein packen wollen, ist es ja kein Thema. Aber es sind doch auch Lasten, die die Kinder zusätzlich zur Schulzeit noch in ihrem Privatbereich aufgebürdet bekommen, von den Hausaufgaben ganz zu schweigen. Hier, in der familiären Situation, in der Zeit zu Hause, vor dem Unterricht und nach dem Unterricht, kann ich erwachsenenhaft-effektiv managen und unterstützen, damit die Kinder mehr Zeit und mehr Glück für sich haben.
Dem Leid der Schulkinder begegnen
1. Die persönlichen Herabsetzungen
Dass Kinder durch die Schule in ihrem Herzen tief gekränkt werden und dass sie die Schule nach 10 langen finsteren Jahren traumatisiert verlassen, wird selten wirklich thematisiert. Die großen und kleinen Katastrophen, die alle Schulkinder erleiden, werden rückblickend immer humorvoll oder sarkastisch oder resignativ erzählt, und es heißt dann: »Schule ist eben so.« Ich sehe aber das Leid der Kinder, das die Schule ihnen zufügt, als das, was es ist, wenn es geschieht: als konkret erlebtes Leid. Und ich erkenne es in seiner Brisanz und Tragweite für die einzelne Person und die Gesellschaft.
Wie schlimm sind persönliche Herabsetzungen, die ein Kind im Laufe seiner 10 bis 13jährigen Schulzeit in und durch die Schule erlebt? Was verheilt und was bleibt? Warum gibt es keine Studien darüber, welche seelischen Verletzungen Kinder in der Schule erleiden und wie es sich mit den Langzeitfolgen dieser Verletzungen verhält? Warum gibt es keine Leiddiskussion, weder in Ansätzen noch in der ganzen Vielfalt der Dinge, die für Kinder in der Schule Leid bedeuten?
Nun, in einer Welt, die den Erwachsenen über das Kind stellt und die dem Erwachsenen die pädagogische Aufgabe zuweist, aus Kindern vollwertige Menschen zu machen, ist die Herabsetzung des Kindes das Alltagsklima. Herabsetzung: Der Erwachsene oben, das Kind unten – der Erwachsene ist der »richtige« Mensch, das Kind ist ein unfertiger, »noch nicht richtiger« Mensch. Das Alltagsklima der Herabsetzung ist strukturell verankert durch die pädagogisch-anthropologische Sichtweise vom Kind. Diese Herabsetzung wirkt aber nicht nur als psychologische Untergrundströmung, sondern wird im Alltag eines jeden Kindes immer wieder auch konkret: verbal und handgreiflich.
In der Schule gilt dieselbe Oben-Unten-Struktur wie in der Gesellschaft, alle Lehrer arbeiten in pädagogisch-anthropologischer Sichtweise an der Menschwerdung des Kindes. Und genauso wird im Alltag eines jeden Schulkindes die Herabsetzung immer wieder auch konkret: verbal und handgreiflich. Als Aktion eines konkreten Erwachsenen, des Lehrers Meier, der Lehrerin Müller:
Anschreien, beschimpfen, auslachen, bloßstellen, vorführen, bestrafen, beleidigen, zwingen, nötigen, übergehen, wegsehen, schlecht machen, ungerecht behandeln, austricksen, in die Enge treiben, mit Häme überziehen, Schuldgefühl machen, Geständnis erpressen, diskreditieren, diskriminieren, anschwärzen, verpetzen, belügen, das Wort im Munde rumdrehen, die intellektuelle Überlegenheit ausspielen, auflaufen lassen, links liegen lassen, vom Spiel ausschließen, bewusst überfordern, erpressen, eine Leistung nicht anerkennen, Strafarbeiten aufgeben, nachsitzen lassen und so weiter und so fort. Und: Ohne Unterlass wird in die körperliche Unversehrtheit eingegriffen. Man lässt einen anderen Menschen spüren, wer die wirkliche Macht über seine körperliche Integrität hat, wem man ausgeliefert ist, wie man sich zu bewegen, zu drehen und zu wenden hat. Der Körper wird dirigiert und funktionalisiert, Finger, Hände, Arme, Beine, Augen, Ohren, Nase, Mund, Magen: Immer wieder rollen die Angriffe auf die körperliche Souveränität heran, immer wieder erlebt sich das Schulkind nicht als Herr im eigenen Haus, sondern als vertrieben von sich selbst.
2. Was ist dabei, wenn ein Mensch gedemütigt wird?
Zu den selbst erlittenen Herabsetzungen kommt das Miterleben der Demütigungen der Alterskameraden, Mitschüler, Freunde – in der Zusammenzählung eine unvorstellbare Menge an durchlittenem und angeschautem Leid. Die Menge dieses Leids wird zur Norm, zur Selbstverständlichkeit, zur erlebten Erfahrung und zum Wissen: »Schule ist eben so.« Ohne Alternative. Und das Gefühl dafür, wie es hätte sein können, sein müssen, wenn Menschen miteinander in gegenseitiger Achtung, Freundlichkeit und Offenheit umgehen, stumpft ab, wird dünner und zerbricht schließlich: »Schule ist eben so.« Wenn es einem selbst passiert – das ist dann irgendwie normal, es passiert allen, jeden Tag, »und wenn es mich trifft, was ist dabei?« Was ist dabei? Was ist dabei, wenn ein Mensch gedemütigt wird? Wenn er sich nicht mehr selbst gehört? Wenn seine Würde zertreten und sein Wert verhöhnt werden? Wenn sich der Schmerz nicht mehr artikuliert, wenn er nicht einmal mehr als Grenzüberschreitung empfunden wird? »Schule ist eben so.« Welche Seele entwickelt sich dann? Wie tief wachsen solche Verletzungen nach innen? Wie wirken sich diese Verwachsungen später aus, in aktuellen Leidsituationen? In denen, die man selbst erfährt, und in denen, die man miterlebt? Und in denen, die man selbst hervorruft? Wie schultraumatisiert sind wir alle – wie schultraumatisiert ist die Gesellschaft – wie schultraumatisiert ist die heutige Zivilisation?
Demütigungen in der Schule unterscheiden sich erheblich von denen, die in der Familie erlebt werden. Eine Herabsetzung durch den Vater oder die Mutter ist stets nur eine persönliche Angelegenheit zwischen diesem Erwachsenen und diesem Kind. In der Schule ist die Herabsetzung durch den Lehrer Meier und die Lehrerin Müller zwar auch etwas Persönliches, das sie mit diesem Kind austragen, aber darüber hinaus geschieht diese Herabsetzung öffentlich, viele sehen zu, der Verlust des Gesichts ist unabwendbar und stets. Die Demütigung erfolgt durch einen Repräsentanten der Öffentlichkeit, der öffentlichen Macht, der Gesellschaft. Der Stachel der Erniedrigung und Beschämung sitzt tief in der Seele durch die öffentliche Schande, die das Schulkind erlebt.
Das Überschreiten der psychischen Schamgrenze, an sich selbst erlebt oder bei anderen mit angesehen und mit erlitten, lässt Kinder zurück, die nicht nur in ihrem Selbstwertgefühl immer wieder demontiert werden, sondern die nach und nach das verlieren, was man Weltvertrauen nennt. Zu den bekannten Mechanismen, um solche Erlebnisse zu überstehen, gehört es, nicht den Angreifer, sondern sich selbst als Verursacher und Schuldigen für das Vorgefallene zu erleben. Die Kinder werden durch das Leid, das die Schule ihnen zufügt, in tiefe Schuldgefühle verstrickt. Sie geraten in das doppelte Unglück, einerseits Opfer zu sein mit all den abscheulichen Wirkungen – und andererseits sich selbst für diese ganze Peinlichkeit verantwortlich zu machen. Die Unterscheidung zwischen Opfer und Täter verwischt, das Leid kann nicht mehr benannt werden, Sprachlosigkeit macht das Leid versteinern und lastet schwer auf der Seele der Kinder.
Die Folgen sind für den einzelnen schwerwiegend genug und dauerhaft, da es weder in der Schulzeit noch in der späteren Erwachsenenzeit eine Aufarbeitung dieser Traumatisierung gibt. Doch sind diese Verletzungen nicht nur für den jeweils gedemütigten Menschen wirksam, sondern darüber hinaus auch dann, wenn den eigenen Kindern derartiges in ihrer Schulzeit widerfährt. Die aktuellen Schuldemütigungen der eigenen Kinder erinnern an die früher als Kind selbst erlittenen Erniedrigungen, die nicht geheilt sind und nun wachgerufen werden. Verschlossen geglaubte Türen zum eigenen Leid werden geöffnet, und der damals erlernte Mechanismus der Doppelbindung lebt auf. Die selbst erlebte Vermischung von Täter und Opfer wird wachgerufen und den eigenen Kindern vorgesetzt: »Geschieht dir recht!« oder »Daran wirst du nicht unschuldig sein!« Oder der Erwachsene empfindet ganz einfach Genugtuung, dass auch anderen – den eigenen Kindern – dieses widerfährt. Reaktionen, die den heutigen Kindern zur eigenen Last zusätzlich die Last ihrer Eltern aufbürden. Aber wie sollten diese Eltern ihren Kindern auch helfen können? Gefangen im eigenen Leid haben die Eltern eigentlich keine wirkliche Möglichkeit, für ihre Kinder etwas zu tun.
Die konkreten Demütigungen, die auch heute Tag für Tag von konkreten Personen in der Schule ausgehen, von Herrn Meier und von Frau Müller, lassen sich nicht vermeiden. Lehrer haben eine pädagogische Grundhaltung, im pädagogischen Bezug steht der Erwachsene als Zivilisationsbeauftragter oben, das Kind als zu zivilisierender Nachwuchs unten. Lehrer haben einen Auftrag – aus Kindern vollwertige Menschen zu machen –, und den müssen sie erfüllen. Und da »Lehrer auch Menschen sind«, werden sie sowohl ihre individuellen Charaktereigenschaften ausleben – und zwar auch die destruktiven – als auch in Belastungssituationen dafür sorgen, dass sie selbst nicht untergehen: Und hierzu setzen sie letztlich Herrschaftsverhalten ein. Es ist völlig illusorisch, sich dafür zu engagieren, dass die Demütigung des Kindes in der Schule verringert wird oder aufhört. Etwa indem man versucht, in konkreten Situationen Einfluss auf bestimmte Lehrer zu nehmen, oder indem die Lehrer in ihrer Ausbildung und Weiterbildung entsprechend sensibilisiert werden. Solange die Schule eine pädagogische Institution ist, enthält sie die strukturelle Herabsetzung des Kindes, und die in ihr arbeitenden Erwachsenen werden um ihrer eigenen Sicherheit willen die ihnen untergebenen Kinder immer wieder auch demütigen, demütigen müssen. Was aber lässt sich tun, wenn die Demütigungen der Kinder unabwendbar zum Alltag der Schule gehören? Wenn sich das Leid nicht verhindern lässt?
3. Das Aussprechen der Wahrheit
Es lässt sich im Anschluss an die Demütigung etwas tun. Wenn Eltern diese seelische Verletzung ihrer Kinder schon nicht verhindern können, so können sie doch hier und sofort mit ihrer Heilung beginnen. Das Leid, das die Schule den Kindern zufügt, kann zum einen überhaupt und zum anderen rasch behandelt werden.
Das ist eine neue Möglichkeit – so nahe liegend und doch nicht erkannt. Hintergrund hierfür ist der eigentlich sehr einfache Gedanke, sich selbst als Mittelpunkt allen Geschehens zu sehen: Die eigene Existenz als Basis der Welt zu begreifen, zu merken, dass es so viele Realitäten wie Menschen gibt. Mit dieser postmodernen Position wird deutlich, was einem selbst zukommt und was in die Zuständigkeit eines anderen Menschen gehört. Und es wird ebenso erkennbar, wer ein Opfer und wer ein Täter ist, Doppelbindungen entstehen gar nicht erst. Der Nebel über dem Geschehen in der eigenen Schulzeit kann sich lichten, klarer und klarer treten der Lehrer Meier und die Lehrerin Müller von damals als Täter vor die Erinnerung, und ungestüm bricht sich das Wissen Bahn, dass wir Schulkinder damals im Recht waren, die Lehrer im Unrecht, dass sie Täter und wir Opfer waren und dass wir an unserem Leid damals nicht schuld waren. Und eindringlich wird bewusst, dass die heutigen Kinder in derselben Situation sind und wie wir ihnen helfen können.
Wenn ein jeder Mensch Mittelpunkt allen Geschehens ist, so gilt das selbstverständlich auch für den Täter, und da auch dieser Mensch aus seiner Sicht etwas Sinnvolles tut, wird zwar nicht das Leid kleiner, das das Opfer von ihm erfährt, aber es entsteht kein Hass. Kinder, die sich als Opfer erfahren und in dieser Opfererfahrung nicht durch Doppelbindungswirkungen gestört werden, werden nicht in Hass auf sich selbst, den Lehrer und die Schule verstrickt. Das Verhalten des Lehrers ist sinnvoll und aus seiner Sicht anders definiert als aus der Sicht des Kindes: Statt »Leid zufügen« sieht der Lehrer eine »notwendige Disziplinierung«, eine »berechtigte Strafe«, eine »hilfreiche Zurechtweisung«. Es wird der Hauch des Vorwurfs, des Schlechten, des Bösen, des Schuldgefühls und der Schuldzuweisung aus diesem ganzen Szenario genommen.
Die Demütigung durch den Lehrer kann nun als das gesehen werden, was sie ist: Eine Grenzüberschreitung, sinnvoll und unvermeidbar für den Lehrer, leidvoll und unakzeptabel für das Kind. Der Sinn des Lehrers steht nicht über dem Sinn des Kindes, und seinem »Das ist jetzt nötig« kann das Kind sein »Aber nur aus deiner Sicht« gleichwertig entgegenhalten. Das Leid des Kindes wird für das Kind Leid bleiben, doch es enthält nicht mehr das psychische Gift des objektiv Nötigen, verfügt durch eine absolute Autorität, erlitten durch eigenes Verschulden.
Die Eltern können ihren gedemütigten Kindern helfen, die Realität nicht zu verlieren. Sie können der aufkommenden Doppelbindung entgegenwirken, Schuldgefühle zerstreuen, das Selbstwertgefühl stärken, Orientierung sein, trösten. Es reicht dabei aus, das Unrecht, das vom Kind als solches erlebt wird, auch so zu benennen: »Es war Unrecht, er hat dir Leid zugefügt.« Ohne den Täter, den konkreten Lehrer, dabei zu diffamieren. Das Aussprechen der Wahrheit, so wie sie das Kind und die auf seiner Seite stehenden Eltern erleben, hat eine unglaublich befreiende und heilende Wirkung, ist voll Mitgefühl und Trost – und dabei gleichzeitig ohne jegliche Herabsetzung der Würde des Lehrers und Täters. Wie in der Wahrheitskommission in Südafrika geht es darum, eine totalitäre Struktur (dort die Apartheid, hier die pädagogische Oben-Unten-Basis der Schule) in ihrer konkreten Inhumanität (dort der Übergriff des weißen Polizisten Meyer, hier der Übergriff des Lehrers Meier) offen zulegen als das, was es ist: Als Unrecht aus der Sicht der Betroffenen, der Schwarzen und der Kinder und ihrer Eltern. Dadurch, dass das Kind ohne Zweifel an sich selbst und seiner Wahrnehmung erlebt, dass ihm Leid zugefügt wurde, dass ihm tatsächlich unberechtigt Leid widerfuhr – und nicht ein irgendwie selbst verschuldetes und berechtigtes Schrecknis –, und dass die Eltern dies alles auch so sehen, verringert sich die Last. Das Leid kann zur Ruhe kommen, Trauer wird möglich, die Heilung kann einsetzen.
Ist das alles? Einfach nur die Dinge beim Namen nennen und trösten? Nun, das ist der Kern all meiner Überlegung und Erfahrung, wie sich dem Schulleid der Kinder wirklich begegnen lässt, dem Leid, das aus der grundsätzlichen pädagogisch-anthropologischen Herabsetzung und den täglichen konkreten Demütigungen kommt. Die Kinder zu trösten, wenn sie sich verletzt haben, ist eine Selbstverständlichkeit für Eltern. Diese Selbstverständlichkeit lässt sich auf das Leid übertragen, das den Kindern in der Schule widerfährt.
Darüber hinaus können Eltern miteinander über diese Thematik ins Gespräch kommen, sich gegenseitig klarmachen, wie sehr ein jeder in diese Erfahrungen verstrickt ist, und dass man sich dennoch aufmachen kann, die eigenen Kinder in der Aufarbeitung des Schulleids zu unterstützen, und zwar hier und jetzt. Wie immer geht es dort vorwärts, wo Eltern die reale Macht haben. Und hier, im Gespräch mit den Kindern und mit anderen Eltern in den eigenen vier Wänden, sind wir ungestört und frei von allem, was die Schule und die Lehrer von uns wollen. Eltern können dem Leid ihrer Kinder in der Schule tatsächlich so wirksam begegnen – und auch den damals selbst erlittenen Schmerz zur Ruhe kommen lassen. Sie können aufhören, die Inhumanität der Schule irgendwie für gerechtfertigt zu halten (»Schule ist eben so«), und sie haben es auch nicht nötig, in scheinprogressivem Eifer wie Don Quichotte immer wieder erfolglos gegen die Schulmühle anzurennen. Statt dessen halten sie vor der Mühle an, breiten eine Decke aus, kleben ein Pflaster auf die Schulwunden ihrer Kinder, und alle zusammen genießen das Picknick.
Dass Kinder durch die Schule in ihrem Herzen tief gekränkt werden und dass sie die Schule nach 10 langen finsteren Jahren traumatisiert verlassen, wird selten wirklich thematisiert. Die großen und kleinen Katastrophen, die alle Schulkinder erleiden, werden rückblickend immer humorvoll oder sarkastisch oder resignativ erzählt, und es heißt dann: »Schule ist eben so.« Ich sehe aber das Leid der Kinder, das die Schule ihnen zufügt, als das, was es ist, wenn es geschieht: als konkret erlebtes Leid. Und ich erkenne es in seiner Brisanz und Tragweite für die einzelne Person und die Gesellschaft.
Wie schlimm sind persönliche Herabsetzungen, die ein Kind im Laufe seiner 10 bis 13jährigen Schulzeit in und durch die Schule erlebt? Was verheilt und was bleibt? Warum gibt es keine Studien darüber, welche seelischen Verletzungen Kinder in der Schule erleiden und wie es sich mit den Langzeitfolgen dieser Verletzungen verhält? Warum gibt es keine Leiddiskussion, weder in Ansätzen noch in der ganzen Vielfalt der Dinge, die für Kinder in der Schule Leid bedeuten?
Nun, in einer Welt, die den Erwachsenen über das Kind stellt und die dem Erwachsenen die pädagogische Aufgabe zuweist, aus Kindern vollwertige Menschen zu machen, ist die Herabsetzung des Kindes das Alltagsklima. Herabsetzung: Der Erwachsene oben, das Kind unten – der Erwachsene ist der »richtige« Mensch, das Kind ist ein unfertiger, »noch nicht richtiger« Mensch. Das Alltagsklima der Herabsetzung ist strukturell verankert durch die pädagogisch-anthropologische Sichtweise vom Kind. Diese Herabsetzung wirkt aber nicht nur als psychologische Untergrundströmung, sondern wird im Alltag eines jeden Kindes immer wieder auch konkret: verbal und handgreiflich.
In der Schule gilt dieselbe Oben-Unten-Struktur wie in der Gesellschaft, alle Lehrer arbeiten in pädagogisch-anthropologischer Sichtweise an der Menschwerdung des Kindes. Und genauso wird im Alltag eines jeden Schulkindes die Herabsetzung immer wieder auch konkret: verbal und handgreiflich. Als Aktion eines konkreten Erwachsenen, des Lehrers Meier, der Lehrerin Müller:
Anschreien, beschimpfen, auslachen, bloßstellen, vorführen, bestrafen, beleidigen, zwingen, nötigen, übergehen, wegsehen, schlecht machen, ungerecht behandeln, austricksen, in die Enge treiben, mit Häme überziehen, Schuldgefühl machen, Geständnis erpressen, diskreditieren, diskriminieren, anschwärzen, verpetzen, belügen, das Wort im Munde rumdrehen, die intellektuelle Überlegenheit ausspielen, auflaufen lassen, links liegen lassen, vom Spiel ausschließen, bewusst überfordern, erpressen, eine Leistung nicht anerkennen, Strafarbeiten aufgeben, nachsitzen lassen und so weiter und so fort. Und: Ohne Unterlass wird in die körperliche Unversehrtheit eingegriffen. Man lässt einen anderen Menschen spüren, wer die wirkliche Macht über seine körperliche Integrität hat, wem man ausgeliefert ist, wie man sich zu bewegen, zu drehen und zu wenden hat. Der Körper wird dirigiert und funktionalisiert, Finger, Hände, Arme, Beine, Augen, Ohren, Nase, Mund, Magen: Immer wieder rollen die Angriffe auf die körperliche Souveränität heran, immer wieder erlebt sich das Schulkind nicht als Herr im eigenen Haus, sondern als vertrieben von sich selbst.
2. Was ist dabei, wenn ein Mensch gedemütigt wird?
Zu den selbst erlittenen Herabsetzungen kommt das Miterleben der Demütigungen der Alterskameraden, Mitschüler, Freunde – in der Zusammenzählung eine unvorstellbare Menge an durchlittenem und angeschautem Leid. Die Menge dieses Leids wird zur Norm, zur Selbstverständlichkeit, zur erlebten Erfahrung und zum Wissen: »Schule ist eben so.« Ohne Alternative. Und das Gefühl dafür, wie es hätte sein können, sein müssen, wenn Menschen miteinander in gegenseitiger Achtung, Freundlichkeit und Offenheit umgehen, stumpft ab, wird dünner und zerbricht schließlich: »Schule ist eben so.« Wenn es einem selbst passiert – das ist dann irgendwie normal, es passiert allen, jeden Tag, »und wenn es mich trifft, was ist dabei?« Was ist dabei? Was ist dabei, wenn ein Mensch gedemütigt wird? Wenn er sich nicht mehr selbst gehört? Wenn seine Würde zertreten und sein Wert verhöhnt werden? Wenn sich der Schmerz nicht mehr artikuliert, wenn er nicht einmal mehr als Grenzüberschreitung empfunden wird? »Schule ist eben so.« Welche Seele entwickelt sich dann? Wie tief wachsen solche Verletzungen nach innen? Wie wirken sich diese Verwachsungen später aus, in aktuellen Leidsituationen? In denen, die man selbst erfährt, und in denen, die man miterlebt? Und in denen, die man selbst hervorruft? Wie schultraumatisiert sind wir alle – wie schultraumatisiert ist die Gesellschaft – wie schultraumatisiert ist die heutige Zivilisation?
Demütigungen in der Schule unterscheiden sich erheblich von denen, die in der Familie erlebt werden. Eine Herabsetzung durch den Vater oder die Mutter ist stets nur eine persönliche Angelegenheit zwischen diesem Erwachsenen und diesem Kind. In der Schule ist die Herabsetzung durch den Lehrer Meier und die Lehrerin Müller zwar auch etwas Persönliches, das sie mit diesem Kind austragen, aber darüber hinaus geschieht diese Herabsetzung öffentlich, viele sehen zu, der Verlust des Gesichts ist unabwendbar und stets. Die Demütigung erfolgt durch einen Repräsentanten der Öffentlichkeit, der öffentlichen Macht, der Gesellschaft. Der Stachel der Erniedrigung und Beschämung sitzt tief in der Seele durch die öffentliche Schande, die das Schulkind erlebt.
Das Überschreiten der psychischen Schamgrenze, an sich selbst erlebt oder bei anderen mit angesehen und mit erlitten, lässt Kinder zurück, die nicht nur in ihrem Selbstwertgefühl immer wieder demontiert werden, sondern die nach und nach das verlieren, was man Weltvertrauen nennt. Zu den bekannten Mechanismen, um solche Erlebnisse zu überstehen, gehört es, nicht den Angreifer, sondern sich selbst als Verursacher und Schuldigen für das Vorgefallene zu erleben. Die Kinder werden durch das Leid, das die Schule ihnen zufügt, in tiefe Schuldgefühle verstrickt. Sie geraten in das doppelte Unglück, einerseits Opfer zu sein mit all den abscheulichen Wirkungen – und andererseits sich selbst für diese ganze Peinlichkeit verantwortlich zu machen. Die Unterscheidung zwischen Opfer und Täter verwischt, das Leid kann nicht mehr benannt werden, Sprachlosigkeit macht das Leid versteinern und lastet schwer auf der Seele der Kinder.
Die Folgen sind für den einzelnen schwerwiegend genug und dauerhaft, da es weder in der Schulzeit noch in der späteren Erwachsenenzeit eine Aufarbeitung dieser Traumatisierung gibt. Doch sind diese Verletzungen nicht nur für den jeweils gedemütigten Menschen wirksam, sondern darüber hinaus auch dann, wenn den eigenen Kindern derartiges in ihrer Schulzeit widerfährt. Die aktuellen Schuldemütigungen der eigenen Kinder erinnern an die früher als Kind selbst erlittenen Erniedrigungen, die nicht geheilt sind und nun wachgerufen werden. Verschlossen geglaubte Türen zum eigenen Leid werden geöffnet, und der damals erlernte Mechanismus der Doppelbindung lebt auf. Die selbst erlebte Vermischung von Täter und Opfer wird wachgerufen und den eigenen Kindern vorgesetzt: »Geschieht dir recht!« oder »Daran wirst du nicht unschuldig sein!« Oder der Erwachsene empfindet ganz einfach Genugtuung, dass auch anderen – den eigenen Kindern – dieses widerfährt. Reaktionen, die den heutigen Kindern zur eigenen Last zusätzlich die Last ihrer Eltern aufbürden. Aber wie sollten diese Eltern ihren Kindern auch helfen können? Gefangen im eigenen Leid haben die Eltern eigentlich keine wirkliche Möglichkeit, für ihre Kinder etwas zu tun.
Die konkreten Demütigungen, die auch heute Tag für Tag von konkreten Personen in der Schule ausgehen, von Herrn Meier und von Frau Müller, lassen sich nicht vermeiden. Lehrer haben eine pädagogische Grundhaltung, im pädagogischen Bezug steht der Erwachsene als Zivilisationsbeauftragter oben, das Kind als zu zivilisierender Nachwuchs unten. Lehrer haben einen Auftrag – aus Kindern vollwertige Menschen zu machen –, und den müssen sie erfüllen. Und da »Lehrer auch Menschen sind«, werden sie sowohl ihre individuellen Charaktereigenschaften ausleben – und zwar auch die destruktiven – als auch in Belastungssituationen dafür sorgen, dass sie selbst nicht untergehen: Und hierzu setzen sie letztlich Herrschaftsverhalten ein. Es ist völlig illusorisch, sich dafür zu engagieren, dass die Demütigung des Kindes in der Schule verringert wird oder aufhört. Etwa indem man versucht, in konkreten Situationen Einfluss auf bestimmte Lehrer zu nehmen, oder indem die Lehrer in ihrer Ausbildung und Weiterbildung entsprechend sensibilisiert werden. Solange die Schule eine pädagogische Institution ist, enthält sie die strukturelle Herabsetzung des Kindes, und die in ihr arbeitenden Erwachsenen werden um ihrer eigenen Sicherheit willen die ihnen untergebenen Kinder immer wieder auch demütigen, demütigen müssen. Was aber lässt sich tun, wenn die Demütigungen der Kinder unabwendbar zum Alltag der Schule gehören? Wenn sich das Leid nicht verhindern lässt?
3. Das Aussprechen der Wahrheit
Es lässt sich im Anschluss an die Demütigung etwas tun. Wenn Eltern diese seelische Verletzung ihrer Kinder schon nicht verhindern können, so können sie doch hier und sofort mit ihrer Heilung beginnen. Das Leid, das die Schule den Kindern zufügt, kann zum einen überhaupt und zum anderen rasch behandelt werden.
Das ist eine neue Möglichkeit – so nahe liegend und doch nicht erkannt. Hintergrund hierfür ist der eigentlich sehr einfache Gedanke, sich selbst als Mittelpunkt allen Geschehens zu sehen: Die eigene Existenz als Basis der Welt zu begreifen, zu merken, dass es so viele Realitäten wie Menschen gibt. Mit dieser postmodernen Position wird deutlich, was einem selbst zukommt und was in die Zuständigkeit eines anderen Menschen gehört. Und es wird ebenso erkennbar, wer ein Opfer und wer ein Täter ist, Doppelbindungen entstehen gar nicht erst. Der Nebel über dem Geschehen in der eigenen Schulzeit kann sich lichten, klarer und klarer treten der Lehrer Meier und die Lehrerin Müller von damals als Täter vor die Erinnerung, und ungestüm bricht sich das Wissen Bahn, dass wir Schulkinder damals im Recht waren, die Lehrer im Unrecht, dass sie Täter und wir Opfer waren und dass wir an unserem Leid damals nicht schuld waren. Und eindringlich wird bewusst, dass die heutigen Kinder in derselben Situation sind und wie wir ihnen helfen können.
Wenn ein jeder Mensch Mittelpunkt allen Geschehens ist, so gilt das selbstverständlich auch für den Täter, und da auch dieser Mensch aus seiner Sicht etwas Sinnvolles tut, wird zwar nicht das Leid kleiner, das das Opfer von ihm erfährt, aber es entsteht kein Hass. Kinder, die sich als Opfer erfahren und in dieser Opfererfahrung nicht durch Doppelbindungswirkungen gestört werden, werden nicht in Hass auf sich selbst, den Lehrer und die Schule verstrickt. Das Verhalten des Lehrers ist sinnvoll und aus seiner Sicht anders definiert als aus der Sicht des Kindes: Statt »Leid zufügen« sieht der Lehrer eine »notwendige Disziplinierung«, eine »berechtigte Strafe«, eine »hilfreiche Zurechtweisung«. Es wird der Hauch des Vorwurfs, des Schlechten, des Bösen, des Schuldgefühls und der Schuldzuweisung aus diesem ganzen Szenario genommen.
Die Demütigung durch den Lehrer kann nun als das gesehen werden, was sie ist: Eine Grenzüberschreitung, sinnvoll und unvermeidbar für den Lehrer, leidvoll und unakzeptabel für das Kind. Der Sinn des Lehrers steht nicht über dem Sinn des Kindes, und seinem »Das ist jetzt nötig« kann das Kind sein »Aber nur aus deiner Sicht« gleichwertig entgegenhalten. Das Leid des Kindes wird für das Kind Leid bleiben, doch es enthält nicht mehr das psychische Gift des objektiv Nötigen, verfügt durch eine absolute Autorität, erlitten durch eigenes Verschulden.
Die Eltern können ihren gedemütigten Kindern helfen, die Realität nicht zu verlieren. Sie können der aufkommenden Doppelbindung entgegenwirken, Schuldgefühle zerstreuen, das Selbstwertgefühl stärken, Orientierung sein, trösten. Es reicht dabei aus, das Unrecht, das vom Kind als solches erlebt wird, auch so zu benennen: »Es war Unrecht, er hat dir Leid zugefügt.« Ohne den Täter, den konkreten Lehrer, dabei zu diffamieren. Das Aussprechen der Wahrheit, so wie sie das Kind und die auf seiner Seite stehenden Eltern erleben, hat eine unglaublich befreiende und heilende Wirkung, ist voll Mitgefühl und Trost – und dabei gleichzeitig ohne jegliche Herabsetzung der Würde des Lehrers und Täters. Wie in der Wahrheitskommission in Südafrika geht es darum, eine totalitäre Struktur (dort die Apartheid, hier die pädagogische Oben-Unten-Basis der Schule) in ihrer konkreten Inhumanität (dort der Übergriff des weißen Polizisten Meyer, hier der Übergriff des Lehrers Meier) offen zulegen als das, was es ist: Als Unrecht aus der Sicht der Betroffenen, der Schwarzen und der Kinder und ihrer Eltern. Dadurch, dass das Kind ohne Zweifel an sich selbst und seiner Wahrnehmung erlebt, dass ihm Leid zugefügt wurde, dass ihm tatsächlich unberechtigt Leid widerfuhr – und nicht ein irgendwie selbst verschuldetes und berechtigtes Schrecknis –, und dass die Eltern dies alles auch so sehen, verringert sich die Last. Das Leid kann zur Ruhe kommen, Trauer wird möglich, die Heilung kann einsetzen.
Ist das alles? Einfach nur die Dinge beim Namen nennen und trösten? Nun, das ist der Kern all meiner Überlegung und Erfahrung, wie sich dem Schulleid der Kinder wirklich begegnen lässt, dem Leid, das aus der grundsätzlichen pädagogisch-anthropologischen Herabsetzung und den täglichen konkreten Demütigungen kommt. Die Kinder zu trösten, wenn sie sich verletzt haben, ist eine Selbstverständlichkeit für Eltern. Diese Selbstverständlichkeit lässt sich auf das Leid übertragen, das den Kindern in der Schule widerfährt.
Darüber hinaus können Eltern miteinander über diese Thematik ins Gespräch kommen, sich gegenseitig klarmachen, wie sehr ein jeder in diese Erfahrungen verstrickt ist, und dass man sich dennoch aufmachen kann, die eigenen Kinder in der Aufarbeitung des Schulleids zu unterstützen, und zwar hier und jetzt. Wie immer geht es dort vorwärts, wo Eltern die reale Macht haben. Und hier, im Gespräch mit den Kindern und mit anderen Eltern in den eigenen vier Wänden, sind wir ungestört und frei von allem, was die Schule und die Lehrer von uns wollen. Eltern können dem Leid ihrer Kinder in der Schule tatsächlich so wirksam begegnen – und auch den damals selbst erlittenen Schmerz zur Ruhe kommen lassen. Sie können aufhören, die Inhumanität der Schule irgendwie für gerechtfertigt zu halten (»Schule ist eben so«), und sie haben es auch nicht nötig, in scheinprogressivem Eifer wie Don Quichotte immer wieder erfolglos gegen die Schulmühle anzurennen. Statt dessen halten sie vor der Mühle an, breiten eine Decke aus, kleben ein Pflaster auf die Schulwunden ihrer Kinder, und alle zusammen genießen das Picknick.
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