Von Schule und Menschenrechten

1. Zwangssystem Schule


Sind Kinder richtige Menschen oder müssen sie sich mit Hilfe der Erwachsenen und der Schule erst dazu entwickeln? Je nachdem, wie man in dieser Frage Position bezieht, ergeben sich sehr unterschiedliche Sichtweisen von der Schule. Ich bin der Auffassung, dass Kinder, d. h. junge Menschen, von Anfang an vollwertige Menschen sind. Dass sie den erwachsenen Menschen gleichwertig sind und dass sie den erwachsenen Menschen auch gleichberechtigt sein sollten. Alle Grund- und Menschenrechte sollten uneingeschränkt auch für Kinder gelten.

Kinder werden in einer pädagogischen Gesellschaft jedoch nicht als vollwertige Menschen angesehen und ihnen werden die Grund- und Menschenrechte nicht uneingeschränkt zuerkannt. Dies gilt auch für die Schule, auch dort wird das Selbstbestimmungsrecht des Kindes nicht anerkannt. Den Kindern werden in der Schule aber nicht nur Rechte vorenthalten, sondern sie sind zusätzlich noch spezifischen Zwängen unterworfen, Zwängen, die jede pädagogisch definierte Schule charakterisieren. Dies sind vor allem der Lernzwang, der Aufenthaltszwang und der Beurteilungszwang. Hinzu kommen unzählige »kleine« Zwänge, die durch das Herrschaftsverhältnis Lehrer – Schüler unvermeidbar entstehen. Diesem Zwangssystem Schule sind die Kinder ausgeliefert, und zwar sowohl rechtlich als auch faktisch – weil letztlich die körperliche Überlegenheit der Erwachsenen entscheidet. Sowie psychisch – durch den moralischen Anspruch, dass die Schule richtig und gut für Kinder sei.

Das mit körperlicher Macht und dem Anspruch auf Richtigkeit daherkommende, die Grund- und Menschenrechte missachtende Zwangssystem Schule bedeutet für junge Menschen ungeheures, ein Kinderleben lang dauerndes Leid und konkrete Menschenrechtsverletzung.


2. Lernzwang – Menschen werden zum Lernen gezwungen


Der Lernzwang missachtet generell das Recht jedes Menschen auf Selbstbestimmung und das »Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit« (Artikel 2 des Grundgesetzes).

Der Lernzwang missachtet das Recht jedes Menschen, über seine Gedanken selbst zu verfügen. Kinder dürfen von ihren Gedanken nicht freien Gebrauch machen. Sie dürfen nicht denken, was sie wollen, sondern müssen denken, was sie sollen. Sie müssen sich mit dem vorgeschriebenen Unterrichtsstoff beschäftigen. Und sie müssen ihren intellektuellen und intuitiven Fähigkeiten immer wieder solange Gewalt antun, bis der Stoff sitzt und das jeden freien Gedanken abtötende Auswendiggelernte im Schlaf wiedergegeben werden kann. Gedankenfreiheit gibt es für Kinder in der Schule nicht.

Der Lernzwang missachtet das Recht jedes Menschen, selbst zu entscheiden, was er lernen möchte. In der Schule wird dieses Recht mit pädagogischen und psychologischen Mitteln unterdrückt. Das Lernen in der Schule ist zum Inbegriff des Lernens von Kindern überhaupt geworden. Das tatsächliche Lernen ist jedoch das von innen kommende, das selbstbestimmte Lernen. Das Schullernen hat das selbstbestimmte Lernen des Kindes aus dem Blick gerückt und es entwertet. Das Schullernen verleidet wegen seines Zwangscharakters jungen Menschen die Entfaltung ihrer Lernfähigkeit. Die Kinder setzen ihre Kraft gegen den Zwang ein, etwas lernen zu müssen – bis ihnen »Lernen« überhaupt verhasst wird.

Der Lernzwang hat grundsätzlich das Rechtsbewusstsein und das Rechtsgefühl zerstört, selbst bestimmen zu können, was man lernen will. Es wird nicht nur das Recht auf Gedankenfreiheit und das Recht auf selbstbestimmtes Lernen missachtet, sondern es verkümmern auch das Wissen, das Bewusstsein und das Gefühl dafür, dass einem diese Rechte zustehen und wie sie sich ausüben lassen. Rechte sind abstrakte juristische Gebilde, sie benötigen stets eine innere Resonanz in den Menschen, um realisiert zu werden. Diese psychologische Seite des Rechts wird zerstört. Kinder wissen und fühlen mit der Zeit nicht mehr, dass ihnen durch den Lernzwang Unrecht getan wird. Statt dessen lernen sie durch die tägliche alternativlose Präsenz des Lernzwangs, dass es richtig ist, wenn andere ihnen in Sachen Gedankenfreiheit und Lernen Vorschriften machen. Dagegen opponieren sie zwar während der gesamten Schulzeit aufgrund des tiefverwurzelten Gefühls vom Recht auf die eigenen Gedanken und vom eigenen Wert. Aber diese Opposition und Verweigerung ist kraftlos und voller Schuldgefühle und hat auch für sie selbst den Charakter von Destruktion und Unwilligkeit, statt dass sie stolz, mit Selbstverständlichkeit und ungebrochenem Elan den Mächtigen des Lernkartells ihr »Nein – ich, meine Gedanken und mein Lernen gehören mir!« entgegenschleudern.

Der Lernzwang führt zu vielfältiger Demütigung, Beleidigung und Nötigung und somit zu offener oder verdeckter Missachtung der Menschenwürde. Denn der Lernzwang ist nicht nur ein konstitutionelles Element der Schule, sondern er wird auch jeden Tag konkret praktiziert und ist Alltagsrealität eines jeden Kindes. Jeder Lehrer ist verpflichtet, den Lernerfolg herbeizuführen, und dies ist bei einem auf Zwang beruhenden Lernen nur mit Zwangsmitteln zu erreichen. Diese Zwangsmittel erstrecken sich von althergebrachtem körperlichen Zwang und offener Bedrohung bis hin zu raffinierten pädagogischen Methoden und psychologischen Tricks wie Freiarbeit, Partnerarbeit, Wochenplan, Projektunterricht, demokratisch-partnerschaftlicher Unterrichtsstil, Ich-Botschaften, Rollen­spiel, Kreisgespräch, Lehrer-Schüler-Konferenz, Aussprache, Selbsteinsicht, Sternchenstempel und vieles mehr.

Der Lernzwang schiebt sich sowohl prinzipiell als auch durch seine Zwangsmittel vor das Grundgesetz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Der Artikel 1 des Grundgesetzes kann in der Zwangsschule von einem Lehrer in seiner Alltagspraxis – dann, wenn er den Lernzwang konkret an realen Kindern ausübt – nicht zur Richtschnur seines Handelns gemacht werden. Obwohl er als Teil der staatlichen Gewalt hierzu eindeutig verpflichtet ist.

Der Lernzwang führt zur Missachtung des Rechts auf freie Meinungsäußerung. In der Schule können Kinder nicht ihre Meinung frei sagen – sondern nur insoweit, wie es dem Unterricht dient. »Jeder hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern«: Der Grundgesetzartikel 5 gilt nicht für Kinder. Wenn Kinder von ihrem Recht nach Artikel 5 Gebrauch machen, wird dies als »Geschwätz« oder »Lärm« diffamiert und mit verbaler oder psychischer Gewalt unterbunden, statt zu erkennen, dass das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung jederzeit und auch lautstark ausgeübt werden kann. Der Lernzwang führt zu täglichem Kampf um diesen Grundgesetzartikel, und er reibt als Lärmkrieg Erwachsene und Kinder auf.

Der Lernzwang hat in seinem Gefolge das ununterbrochene und in tausend Nuancen wuchernde Beiseitewischen des Rechts über seinen Körper selbst zu bestimmen: »Setz dich! Steh auf! Steh still! ...« Im Grundgesetzartikel 2 ist dieses Recht eindeutig zum Ausdruck gebracht: »Jeder hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit.« Doch es vergeht kein Tag ohne die Verletzung dieses Rechts, das für junge Menschen grundlegend und identitätsstiftend ist, da sie sich lange Zeit noch nah an ihrer Körperlichkeit erleben. Das Gefühl, ausgeliefert, wehrlos und Objekt zu sein wächst dadurch wie ein Krebsgeschwür in den Kindern.

Der Lernzwang bedeutet auch Aufenthaltszwang und führt zu Freiheitsberaubung im Teilzeitgefängnis Schule. Kinder werden von den eigenen Eltern zum Lernen in die Schule geschafft, und ihre persönliche Anwesenheit wird notfalls mit Polizeigewalt hergestellt. Dies steht in eklatantem Widerspruch zum Grundgesetzartikel 2: »Die Freiheit der Person ist unverletzlich.« Vor allem aber bewirkt der Lernzwang hier einen katastrophalen Vertrauensverlust zwischen Kindern und Eltern: Die Menschen, die Sicherheit und Trost für die Kinder bedeuten, ihre Eltern, treiben sie Morgen für Morgen aus dem Bett und aus dem Haus, dorthin, wo ihre Würde, ihre Rechte und ihr Selbstwertgefühl missachtet werden. So etwas geht nicht sanft über die Bühne, und die Verzweiflung der im Stich gelassenen Kinder verfinstert Tag für Tag die Morgensonne.


3. Beurteilungszwang – Menschen werden Beurteilungen unterworfen


Der Beurteilungszwang beinhaltet zunächst die Aufspaltung von Eigenschaften und Fähigkeiten des Kindes in solche, die »schulgeeignet« und »schulwertvoll« sind und in solche, die es nicht sind. Diese Aufteilung führt jeder Lehrer anhand von formellen und informellen Kriterien durch. Die »schulgeeigneten« Persönlichkeitsteile werten durch ihre Bevorzugung die anderen ab, lassen sie ein Schattendasein führen oder werden von den Kindern völlig überzogen ins Spiel gebracht, als Reaktion auf die Störung ihrer inneren Balance. Die Spaltung ihrer Persönlichkeit ist von den Kindern selbstverständlich nicht gewollt und ein Unding an sich und hat heftige negative Auswirkungen auf ihre gesamte gesunde psychische Entwicklung.

Von der Schule gebraucht und durch den Beurteilungszwang eingefordert werden: Auf­merksamsein, Mitarbeiten, Antworten, Fragen, Ordent­lichsein, Umsetzenkönnen von Anweisungen, lernstofforientiertes Nachdenken, Singen nach Vorgabe und Noten, Nachsprechen, Auswendiglernen, Vorführen, Kreativsein im schulischen Sinne, Leibesübungen vollziehen, und, und, und. Alle diese Verhaltensweisen werden sodann beurteilt, und die Kinder haben sich diesen Beurteilungen zu unterwerfen. Selbst wenn einzelne Beurteilungen in Frage gestellt werden – nicht in Frage gestellt wird, dass überhaupt beurteilt wird, nicht erkannt wird, dass die unerbetenen Beurteilungen ein schwerwiegender Eingriff in die Persönlichkeit des Kindes sind und destruktive Folgen haben. Die Beurteilung des Schülers durch den Lehrer lastet als unreflektierter und tabuisierter Zwang auf jedem Kind. Mit dem Anspruch unabdingbarer Notwendigkeit gibt es Lob und Tadel bei allem und jedem.

Der Beurteilungszwang zerstört positive Beziehungen und bewirkt, dass zwischen Lehrern und Schülern Misstrauen und Angst herrschen. Die von Zwangsbeurteilungen geprägte Beziehung enthält aufseiten der Kinder Betrug und Lüge, um gute Beurteilungen zu erhalten, aufseiten der Lehrer Misstrauen und Herrschaft.

Der Beurteilungszwang zerstört das Selbstwertgefühl der Kinder, denn sie erfahren jahrelang, dass sie nicht Wert an sich haben, sondern nur beim Erfüllen von schulischen Anforderungen, und dass ihre nicht »schulgeeigneten« Eigenschaften nichts wert sind. Außerdem verlernen sie, sich selbst zu beurteilen und ihre Möglichkeiten und Grenzen selbst und realistisch einzuschätzen.

Der Beurteilungszwang macht die Kinder im Fall von guten Beurteilungen abhängig vom Lehrer und schleust sie in die Bahn devoter Unterordnung. Im Fall von schlechten Beurteilungen treibt der Beurteilungszwang die Kinder in Angst, Verzweiflung bis hin zu Selbstmord.

Der Beurteilungszwang zerstört die positive Familiensituation. Denn die Eltern wollen, daß ihre Kinder gute Beurteilungen nach Hause bringen. Eltern mit solchen Erwartungen werden von den Kindern erneut nicht als auf ihrer Seite stehend erfahren. Die Kinder erleben die Eltern als Verbündete der Schule, sie fühlen sich verraten und nicht mehr geliebt. Die Familie verliert durch den Beur­teilungszwang ihre Schutz- und Unterstützungsfunktion.


4. Schule – Zerstörung der Lernfähigkeit


Die Schule verhindert durch die Missachtung der Menschenrechte und die daraus resultierenden Zwänge, daß die Lernressourcen der nachwachsenden Generation erkannt und fruchtbar gemacht werden – Ressourcen, die in den Menschen angelegt sind und die von der Menschheit heute dringender denn je zum Überleben benötigt werden. Die Kraft der Kinder ist im Abwehrkampf gegen den Lern-, Beurteilungs- und Aufenthaltszwang und die vielfältigen »kleinen« Zwänge gebunden. Erwachsene werden in diesem Kampf aufgerieben, und ihre hilfreichen Fähigkeiten zur Unterstützung der Kinder und Entfaltung ihrer Lernfähigkeit können nicht genutzt werden. Neben der Unmenge Leid, die dadurch bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen, hervorgerufen wird, sind die Leistungen dieser auf Zwang beruhenden Schule äußerst gering. Die heutige Schule ist somit gleichzusetzen mit der Zerstörung der Lernfähigkeit der nachwachsenden Generation und mit der Schädigung der Zukunft. Dies ist zu ändern!