Die wirkliche Macht der Eltern

1. Den Familienfrieden muss man nicht für die Schule aufs Spiel setzen.
Realismus, Humor, Entdramatisieren, aus der Situation heraus handeln. Sich klarmachen, dass es bei allem stürmischen Tamtam immer letztlich um einen selbst geht: »Was will ich selbst eigentlich in dieser Situation? Und was ist davon realistisch? Bin ich auf der Seite der Kinder oder der Lehrer? Mal so, mal so, was gilt jetzt?« Wenn das klarer ist, dann die Überlegung: Was lässt sich tun? So, dass das, was mir wichtig ist, ein bisschen mehr erreicht wird als ohne meine Intervention. Wichtig: Wie immer im Leben kann mir letztlich, existentiell gesehen niemand, auch die Schule nicht, natürlich nicht, Vorschriften machen. Alles hat Folgen, das ist banal, aber niemand kann mich wirklich zwingen. Der Chef meines Lebens bin und bleibe ich – egal, was mir da aus der Schule entgegenweht.

Schulische Anforderungen werden allermeist automatisch angenommen – und genau das ist nicht nötig. Die Schule ist die Schule, der Lehrer ist der Lehrer. Und ich bin ich. Der Friede in meinen eigenen vier Wänden wird nicht den Wünschen eines Lehrers oder den immer so absolut daherkommenden Anforderungen der Schule geopfert. Natürlich, die Lehrer haben ihre eigenen Wünsche und Nöte, und für sie ist es eben nahe liegend, die Eltern immer wieder vor ihren Karren zu spannen. Kein Vorwurf. Nur: Über das Mitziehen entscheide ich als Vater oder Mutter allein. In Abwägung immer derselben Möglichkeiten: Entlastet oder belastet meine Entscheidung mein Kind? Gibt es mehr Ärger oder weniger? Wie stehe ich da? Wie steht mein Kind da? Wie steht der Lehrer da? Hat meine Entscheidung Auswirkungen auf Noten,  Versetzung, Schulerfolg? Ich finde, dass jeder das Recht hat, sich da seine ganz eigene Suppe zu kochen, und zwar mit den eigenen Zutaten. Es gibt kein Einheitsrezept für alle, sondern nur individuelle, private Rezepte. Ich ermutige zum Kochen der eigenen Schulsuppe. Ich jedenfalls habe mir so manches Süppchen zum eigenen Wohlergehen und dem meiner Kinder gebraut.

Ein Lehrerbesuch? Teilnahme am Elternabend? Hingehen zum Elternsprechtag? Eine Unterschrift? Eine »dringend empfohlene Aussprache mit meinem Kind«? Nichts ist zwingend, nichts muss wirklich sein. Eltern sind schnell bereit, folgsam zu sein, wenn »die Schule« etwas von ihnen will. Aber bitte: Wir sind keine abhängigen Schüler mehr! Das kann man sich klarmachen, und das sage ich den Eltern auch. Wenn sie sich abhängig und wehrlos fühlen, wenn sie eingeschüchtert sind, weil es ihrem Kind sonst schlecht in der Schule geht, und sie schon wissen, wie es sein müsste, nur dass sie sich nicht trauen: Nun gut, dagegen ist auch nichts zu sagen, es entspricht ja nur ihren Möglichkeiten, und verzagte Eltern anzutreiben finde ich einfach unwürdig, und außerdem bringt es nichts. Wer verzagt ist, ist verzagt. Nur, dass mir dann keine Hilfe mehr einfällt, außer zu sagen, dass das ja auch nicht weiter schlimm ist. Und dies, die uneingeschränkte Akzeptanz der real existierenden Hilflosigkeit, ist dann Hilfe genug. Das Leben geht weiter, auch dann, wenn man sich um seiner Kinder willen verbeugt. »Ja, ich bin hilflos und ordne mich diesem Unsinn der Schule unter« – das lässt sich auch sehr selbstbewusst sagen.

Die wirkliche Macht der Eltern liegt nicht in einer Einwirkung auf die Schule. Die offiziellen Mitwirkungsmöglichkeiten der Eltern sind Augenwischerei, und dass so wenig Eltern sich in den schulischen Dingen engagieren, und dass die wenigen, die es tun, dies nicht sehr lange tun, ist beredt genug und zeigt den Realitätssinn der Eltern. Wenn es wirklich wichtig wird, hat die Schule immer mehr Macht: So ist die Struktur und so ist das Gesetz, und das wird so bleiben, bis sich – irgendwann einmal – Struktur und Gesetz ändern. Die wirkliche Macht der Eltern liegt in dem, was sie in allem und jedem, was mit der Schule zusammenhängt, zu Hause tun können. Denn so, wie die Möglichkeiten der Eltern am Schultor aufhören, hören auch die Möglichkeiten der Schule an eben diesem Tor auf.

Niemals kann die Schule, kann der Lehrer Meier, kann die Lehrerin Müller tatsächlich zwischen mich und mein Kind kommen. Ich gestalte die Beziehung zu meinem Kind nach meinen eigenen Regeln, aus und fertig. Die Freundlichkeit zu den Kindern, die jeder aus der schulfreien Zeit kennt, vom ersten bis zum letzten Ferientag, die lässt sich durchaus auch in der Schulzeit bewahren. Niemand kann das wirklich verhindern, und es ist auch nicht verboten, zu seinen Kindern freundlich zu sein und freundlich zu bleiben, auch beim Thema Schule. Den Familienfrieden muss man nicht für die Schule aufs Spiel setzen. Man muss nicht – aber es passiert, dauernd, natürlich, weil freundliche und friedliche Eltern-Schulkind-Beziehungen die Arbeit der Lehrer behindern und unterwandern können. Klar, dass der gestresste Lehrer die Eltern als Verbündete gegen das unwillige Schulkind gewinnen möchte. Sein gutes Recht. Aber klar ist auch, und ebenfalls gutes Recht, dass das niemand mit sich machen lassen muss.

2. Emanzipation von der Schule
Es ist für mich immer die einfache Frage gewesen: Auf welcher Seite stehe ich eigentlich? Und dann gab es immer eine klare Antwort: auf meiner! Und zu mir gehören meine Kinder, nicht aber Herr Meier und Frau Müller. Wenn man das einmal tief in sich überlegt und verstanden hat, gibt es ein Aufatmen, und das Drama Schule wird ganz einfach kleiner. Dahin kann man kommen, wenn man will. Man muss sich damit aber auch keinen Stress machen, und wer meint, die Lehrer seinen Kindern immer wieder mal oder öfter vorziehen zu müssen – kein Thema. Dennoch: Jeder Tag ist eine neue Chance, sich von der Schule und ihrem Zugriff auf die Familie zu emanzipieren.

Es gibt auch Eltern, die setzen die Schule mit ihren großen und kleinen Schrecken gezielt ein, um die Kinder zu Hause zu disziplinieren. Wie den Schwarzen Mann, Knecht Ruprecht oder den Teufel. Dazu fällt mir nichts ein, außer dass ich die Hilflosigkeit dieser Eltern sehe, auch ihnen keinen Vorwurf mache und denke, dass die Kinder auch derartige Manöver überleben werden. Solche Eltern lassen sich von meinen Gedanken zum Thema Schule nur schwer oder überhaupt nicht erreichen. Das gehört dazu. Ebenso wie die Eltern, die  ihre Kinder gern zur Schule schicken, weil sie vom Wert der Schule überzeugt sind und weil sie kein Gespür für das Unrecht der Schule haben. Ich schreibe nicht für alle Eltern, sondern nur für die, die einen so tiefen Respekt vor der Würde ihrer Kinder haben, dass sie leiden, wenn sie mit ansehen müssen, was in der Schule mit ihren stolzen Rittern und Prinzessinnen geschieht, wie ihr Königtum an »Subjekt, Prädikat, Objekt« und an »(a + b) · (a + b)« ge- und zerbrochen wird.

Die Schule ist eine Institution, die ganz und gar unabhängig von uns existiert. Wir sind immer konkrete Menschen, und das heißt für die Eltern und die Kinder: dieser Vater, diese Mutter, diese Kinder. Unabhängig von uns als Familie existiert viel in der Welt: Die Kneipe nebenan, das Stadttheater, der Bundestag, und eben auch die Müller-Schule in der Meierstraße und die Meier-Schule in der Müllerstraße. Klar, das hat auch etwas mit uns zu tun, denn wir gehen ja in die Kneipe und ins Theater, wir wählen das Parlament und schicken die Kinder zur Schule. Aber es ist eben auch wahr, und das zu übersehen macht die Macht der Schule aus, dass diese Institution, die Schule, jede Schule zunächst einmal mit uns nichts, aber auch ganz und gar nichts zu tun hat. Die Schulgesetze: nicht von uns beschlossen. Der Lehrer: nicht von uns bestellt. Die Schulordnung: nicht von uns in Auftrag gegeben. Die Lehrpläne: nicht unsere Erfindung. Methodik, Didaktik, Motivation, Evaluation und das ganze weitere depersonalisierende pädagogische Brimborium: weiß Gott nicht unsere Sache. Nichts, aber auch gar nichts ist von der Schule auf unser Konto zu buchen. Wir hier – die Schule dort.

So – und von dieser radikalen, grundsätzlichen und wesentlichen Unterscheidung aus sehe ich mir an, was das dort denn ist, die Schule, wie sie strukturiert ist, was sie will, was sie bewirkt. Und von daher kommt meine Entschlossenheit, für meine Kinder einzustehen und den Anforderungen der Schule immer wieder mit Verwunderung zu begegnen: »Tatsächlich – das hat der Lehrer gesagt? Was hat er sich dabei eigentlich gedacht?« Immer wieder. Und von daher kommen dann meine Reaktionen, mein Umgang mit dem Merkwürdigen da draußen – das Schule heißt und durch das ich selbst damals, zu meiner Zeit, durchwanderte, durch musste. Exotisch schon damals, eine seltsame Erfindung, umgeben von der Aura des Absoluten, wie Sonne, Mond und Sterne. Nur: Dass ich heute diese Fiktion sehe, als Erwachsener darum weiß, dass die Schule eben nicht als göttlich Ding vom Himmel auf die Erde gekommen ist, sondern ein ganz und gar menschlich Ding ist, ersonnen und gemacht von Menschen wie du und ich, und dass man das alles gänzlich anders sehen kann.

Ich lade also jeden ein, sich von der Schulideologie zu befreien. Big Brother, das Kuckucksnest, Truman’s World zu verlassen, diese gläserne Glocke, die Kinder leibhaftig einfängt, niemals wirklich entlässt, sondern sie als groß gewordene Kinder lebenslang gefangen hält. Schule muss nicht sein! Sollte sie sein? Jeder von uns gibt hier seine eigene Antwort. Ein Tipp für Unentschlossene: Fragen Sie die Kinder, ein halbes Jahr nach der Zuckertüte. Sie kennen noch den Zusammenhang, wissen noch um das, was möglich ist, sie haben es noch im Blick, was Leben ohne Schule heißt.

3. Die eigenen Antworten
Dies alles zu wissen macht sehr sicher, die eigenen, aus der familiären Situation kommenden Antworten zu finden. Keine Hausaufgaben gemacht? »Ran an die Arbeit« oder »Dann lass es eben«. Ein Brief, dass mein Kind sich in der Schule nicht benimmt? Wozu sollte es sich benehmen? Und was heißt eigentlich »Benehmen« in der Schule? Schlägt es andere Kinder? Vielleicht war das wichtig und richtig. Redet es zu laut im Unterricht? Vielleicht war das wichtig und richtig. Tut es nicht, was der Lehrer will? Vielleicht war das wichtig und richtig. Jeder Mensch, auch jeder junge Mensch, auch jedes Kind in der Schule tut immer etwas Sinnvolles, mit Grund, aus seiner eigenen, individuellen Schlüssigkeit und Weltdeutung heraus. Das interessiert mich. Also: Warum keine Hausaufgaben? Was führte zur Schlägerei? Zu Gegenreden? Ich liebe mein Kind und ich freue mich, wenn ich es mehr und mehr und immer wieder neu verstehen lerne. Soll ich mein Kind korrigieren um der Schule willen? Soll ich einen lebendigen Menschen korrigieren, weil Herr Meier das gern so von mir hätte? Wer bin ich denn?

Die Anmaßung, Menschen zu formen, habe ich Lichtjahre hinter mir gelassen. Klar – wenn es mir zuviel wird, was da an Ärger auf mich zurollt, kann ich immer meine Grenzen ziehen und mein Kind so beeinflussen, dass der Ärger erträglich bleibt. Ich kann mich notfalls immer auch der Schule unterwerfen: Ohne Hausaufgaben – kein Taschengeld. Ohne Entschuldigung bei Herrn Meier – Fernsehverbot. Ich kann in die Trickkiste greifen, um mich selbst zu schützen. Ich kann, aber ich muss es nicht, und wenn ich nicht anders kann, dann immer mit Klartext zwischen den Zeilen: Dass ich dazu niemals das Recht habe in dem Sinn, dass ich die richtigere und bessere Position vertrete, sondern nur in dem Sinn, dass ich mich schützen will und deswegen jetzt diese Machtmittel anwende. Dass ich mich nicht moralisch überlegen im Recht weiß und Zustimmung einfordere: »Sieh das ein!«, sondern dass ich mir jetzt gerade nur so zu helfen weiß: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders!« Die Kinder erleben dann ihre Niederlage nicht verschleiert (»Zu deinem eigenen Besten!«), sondern als Ausdruck meiner Hilflosigkeit. Deswegen ist es immer noch unangenehm, aber ohne die demütigende psychische Verletzung, die die innere Unterwerfung des Kindes will und diese Unterwerfung dann als »Einsicht« preist.

Ein wirklicher Verbündeter der Schule werde ich damit nicht, ich bin dann vielmehr ein Sklave im System Schule, der die Peitsche gegen die eigenen Kinder zu schwingen hat, und dazu bekenne ich mich dann auch, mit dem Stoßseufzer: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«. Und morgen ist ein neuer Tag, mit neuer Kraft und neuem Schwung, um die Last, die den Kindern durch die Schule aufgebürdet wird, wieder tragen zu helfen.

Keine Hausaufgaben? »Zeig mal, ich helfe dir« oder »Gib her, ich mache das heute für dich«. Schlägerei in der Schule? »Komm, wir gehen Eis essen und fertig.« Unverschämtheiten zum Lehrer? »Selbstverständlich hast du das Recht, ihm deine Meinung zu sagen, und wenn du aufgebracht bist, auch mit diesen Worten. Er muss höflich sein, denn er ist freiwillig und für viel Geld in der Schule – du bist gezwungen. Du hast alles Recht der Welt, dich in der Schule deiner Lehrer zu erwehren. Vielleicht war es nicht so klug, weil er dir jetzt irgendwo etwas reinwürgt, aber man kann nicht immer klug sein. Ich kann ihn anrufen, wenn du willst, und die Wogen glätten.«

Man kann so viel an Entlastung für die Kinder jeden Tag tun, nachmittags, wenn sie zu Hause sind, oder auch morgens, bevor es los geht. Psychisch und auch konkret. Beispiel: Ich kann den Ranzen meiner Kinder abends tiptop fertig machen, wie ein Butler – was ist dabei? Die Windeln wechsele ich auch, und eine Schultasche stinkt nicht einmal. Die Kinder gehen morgen früh wieder in die Sklaverei, da werde ich doch wohl ihren widerlichen Lastsack versorgen können. Sollen sie sich dieses Symbol ihrer Demütigung auch noch selbst zurechtlegen, womöglich auch noch »ordentlich«? Die Bücher, Hefte, Stifte, Zeichenblock, das ganze Drumrum kann ich versorgen, als technischer Direktor. Und ich stecke die Micky Maus oder den Game Boy einfach mit dazu. Klar, wenn die Kinder ihre Tasche allein packen wollen, ist es ja kein Thema. Aber es sind doch auch Lasten, die die Kinder zusätzlich zur Schulzeit noch in ihrem Privatbereich aufgebürdet bekommen, von den Hausaufgaben ganz zu schweigen. Hier, in der familiären Situation, in der Zeit zu Hause, vor dem Unterricht und nach dem Unterricht, kann ich erwachsenenhaft-effektiv managen und unterstützen, damit die Kinder mehr Zeit und mehr Glück für sich haben.