Melanie

Ich folge dem Insgesamt meines Wissens, meiner Erfahrung, meiner Gefühle, der Situation und den Perspektiven: aus all diesem komponiert sich der Impuls, der mich handeln lässt. Es kann sein, dass Angst überwiegt und dass mich das Selbstvertrauen eines Kindes nicht erreicht. Dann stelle ich mich in den Weg, um etwas gegen meine Angst zu tun. Nicht aus Verantwortung für ein Kind – dies ist es selbst –, sondern weil mir meine Angst und meine Sorge die Richtung geben.

Ich erlebe mich oft aber als angstfrei, gelassen, in schlüssigem, auch mitreißendem Kontakt zur Sicherheit und zum Selbstvertrauen eines Kindes. Ich lasse mich nicht oberflächlich oder leichtsinnig darauf ein – die Brücke ist fest und trägt. Wenn ich so bin – durchgetaucht durch die eigene Ängstlichkeit – , erlebe ich das Abenteuer, das Leben heißt. Als Gast im Land der Kinder erfahre ich meine eigene Potenz, angesteckt von der Lebensfreude dieser göttlichen Wesen.

Melanie, drei Jahre alt, war Teilnehmerin einer Gruppe meines Forschungsprojekts über neue Beziehungsformen für Erwachsene und Kinder. Wir saßen am Rand eines Flusses: Melanie, ihre Mutter Kerstin, zwei Freundinnen von Kerstin und ich. Kerstin drang auf Melanie ein, nicht zu nahe an das Ufer zu gehen. Es war eine senkrechte Uferböschung, etwa drei Meter unter uns der Fluss. Kerstin versuchte, Melanie zu erziehen. Sie sollte lernen, dass es gefährlich sei, so nahe an den steilen Abhang zu gehen. Neben der Angst, die von Kerstin ausging, kam auch der deutlich spürbare erzieherische Anspruch: »Ich weiß, ab wann es für dich gefährlich ist. Du kannst noch nicht selbst entscheiden, wie weit du vorgehen darfst. Ich bin stellvertretend für dich verantwortlich. Ich weiß es besser als du.«

Ich begann zu überlegen. Wieder einmal machte ich mir klar, dass die Kinder auf die erzieherischen Erwachsenen in ganz bestimmter Weise reagieren: Sie spüren, dass ihr »Ich kann gut für mich selbst entscheiden« nicht akzeptiert ist, und sie befinden sich dann in Auseinandersetzung mit diesem Übergriff. Ich merkte, dass auch Melanies Konzentration vom unverstellten Die-Welt-Begreifen wegorientiert war, hin auf Kerstin und ihre erzieherische Botschaft. Es war, als ob Melanie zwischen sich und die Welt die Auseinandersetzung mit dem Erwachsenen geschoben bekommen hätte, wie Nebel. »Ihre Fähigkeit, die Wirklichkeit ungebrochen wahrzunehmen, ist gestört«, dachte ich. Und der Friede des Sommertags war dahin.

Wie ist das dann mit den Erwachsenen? Auch sie sind gestört, wenn sie sich so verhalten oder verhalten müssen, durch all das, was in ihnen an gelerntem »Mit Kindern muss man doch so umgehen« auftaucht. Und was doch so sehr im Widerspruch zur Weisheit ihrer eigenen Kindheit steht, als sie selbst mit diesen »Weisheiten« behindert wurden. Wegen der von ihnen ausgehenden Störung erfahren diese Erwachsenen nicht mehr, wie Kinder tatsächlich sind, dass sie sehr wohl in eigener Verantwortung ihre Dinge tun können – und zwar gut und effektiv. Jeder Mensch wird mit dieser Fähigkeit geboren – Melanie ist voll davon. Doch Kerstin wird von dem Zwang, dem die Erwachsenenwelt unterliegt, nämlich sich erzieherisch richtig zu verhalten, von ihrer Tochter fortgerissen. Fort von der offenen, unverstellten, vertrauensvollen und friedlichen Beziehung zu ihrem Kind.

Ich kannte Melanie aus meinem Forschungsprojekt. Unsere Beziehung war eine amicative Beziehung, frei von erzieherischen Ansprüchen und voller Nähe, Wärme, Angebot und dem Wissen um unsere Grenzen. Ich sah ihr Gesicht und ich wusste, dass sie jetzt um ihre Identität kämpfte. Sie wollte allein entscheiden, wie weit sie vorgehen konnte. Melanie war verstrickt in die Abwehr mit Kerstin. Was sie tat – zur Böschung ein Stück gehen, Gras abrupfen, vor sich hinsehen – war durchdrungen von dem Eingeflochtensein in das, was von Kerstin ausging: Dem Anspruch, besser zu wissen als sie selbst, was das Richtige für sie sei.

Ich schwieg und beobachtete. Es ist nicht meine Aufgabe, einem erzieherischen Erwachsenen die Erziehung auszutreiben. Ich litt unter Kerstins Verhalten. Und ich bot mich – wortlos, ohne Aktion – Melanie an, falls sie nach mir suchen würde. Melanie begann, mit mir zu spielen. Die Böschungsfrage war ungelöst. Kerstin vertraute mir jetzt ihre Tochter an und wandte sich ihren Freundinnen zu. Ich kam mit Melanie näher zur Böschung. In mir war keine Angst und kein Anspruch, stellvertretend für dieses selbstbestimmte Geschöpf des Universums die Entscheidungen »zu deinem Besten« treffen zu müssen. Ich traute ihr zu, die Böschungsfrage selbst richtig zu entscheiden. Und ich wusste auch, dass ich mich in einem Unglücksfall auf mich verlassen konnte. Melanie und ich: Wir beide konnten uns frei von erzieherischem Nebel auf die Situation und aufeinander einlassen.

Und dann erlebte ich, wie ein junger Mensch von drei Jahren sich mit dem Fluss, den Strudeln, der Gefahr, dem Risiko, dem Steinwerfen, den Blumen, der Sonne, dem Wind beschäftigte. Wie sie lebte, lachte, ängstlich war, mutig war, stolz war, sich erkundete und die Welt begriff. Wir waren in einer vertrauten, sehr nahen Beziehung, und es war etwas von Achtung, Geheimnis und Andacht zwischen uns. Obwohl sie nichts direkt mit mir tat und ich ihr nur gelegentlich Grasbatzen locker machte zum Hineinwerfen, erlebten wir dabei auch uns. Die anderen waren vergessen, und wir begegneten uns als gleichwertige und freie Menschen in einer tiefen emotionalen Dimension: So, wie sie sich vertraute, konnte ich mir und ihr vertrauen. Ihr Selbstvertrauen, dem ich mich jenseits jeden erzieherischen Ballasts aufgeschlossen hatte, erreichte mich ungehindert, fegte das Bedenken, dass sie zu Schaden kommen könnte, fort, und bestätigte das tief in mir lebende Gefühl aus meiner eigenen Kindheit, dass jeder von uns ein König ist – ein Ebenbild Gottes. Ich spürte ihre Kraft und ihre Stärke – so, wie ich mir in ihrer Gegenwart selbst sicher war.