Nachsinnen über das Bild vom Kind




Lea ist 13 Monate alt. Mit ihrer Mama kommt sie jeden Morgen zu ihrer Tagesmutter Tina. Heute streckt sie freudig ihre Arme aus, damit Tina sie entgegennehmen kann. Noch ein kurzer Abschiedsblick zur Mama und dann erspähen ihre Augen auch schon die Kuckucksuhr in Tinas Küche. Lea summt so gut sie kann das Lied von gestern auf Tinas Schoß: „Große Uhren machen tick-tack …“. Sie wiegt sich dabei auf Tinas Arm hin und her, wie sie es am Vortag im Takt des Liedes erfahren hat. Tina hat verstanden. Sie gehen gemeinsam zur Kuckucksuhr, lassen den Kuckuck heraus. Er schreit fünfmal. Lea ist entzückt. Und dann kommt wieder das Tick-Tack-Lied auf Tinas Schoß. Lea jauchzt beim Hin-und-her-wiegen. Bis sie genug hat. Sie macht deutlich, dass sie nun auf den Fußboden möchte, um ihre Erkundungstour zu starten. Zielsicher und flink strebt sie zum kleinen Holzpuppenwagen. Sie wirft ihn um. Er nützt ihr auf seinen vier Holzrädern stehend wenig, da sie noch nicht laufen kann. Nun widmet sie sich, wie schon in den vergangenen Tagen, neugierig dem Objekt ihrer Forschung. Die Puppe im Wagen interessiert sie nicht, sie fliegt in hohem Bogen hinaus. Aber diese herrlichen Materialien: Da sind flauschiger Stoff, kuschelweiche Polster, zierliche Bändchen, standhaftes Holz, gegen das man so schön mit einem Bauklotz klopfen kann, und diese Räder erst, wie sie sich drehen, links herum und rechts herum.
Tina beobachtet Lea. Sie könnte jetzt eingreifen und Lea zeigen, wie man einen Puppenwagen richtig benutzt. So hin und her fahren, die Puppe hineinlegen und sich um sie kümmern. Damit sie es später einmal bringt. Könnte sie, wenn sie ein Bild vom Kind hätte, wie es die Erwachsenen ihrer Kindheit hatten: Nämlich, dass Erwachsene die Kontrolle über die Entwicklung von Kindern haben müssen. Die Großen sind die „Chefs“, denn sie wissen, was für Kinder gut ist, besser als die Kinder selbst. Sie wissen, was gerade dran ist zu lernen, und wie. Sie sind verantwortlich für ihre Kinder. Erwachsene können darauf bestehen, dass Kinder einsehen müssen: Alles was Erwachsene für Kinder tun, ist zu ihrem Besten. Kinder können das eigene Beste für sich nicht selbst wahrnehmen, noch nicht. So war es schon immer. Kinder sind noch keine richtigen, vollwertigen Menschen, sondern nur Kinder, die durch Erwachsene erst zu richtigen Menschen gemacht werden müssen, mit Erziehung und Bildung. Deshalb bestimmen die Erwachsenen die Ziele der Entwicklung von Kindern und verwirklichen diese Ziele mit klug ausgedachten Methoden, mit „vorzüglichen Winkelzügen“, wie es in der „Feuerzangenbowle“ so schön heißt. Natürlich auf freundliche Weise, wenn es geht, das ist klar. Aber auch mit Strenge, wenn es nicht so klappt, wie sich die Erwachsenen das vorstellen, beim Sauber-Werden, beim Ordentlich-Essen, beim Aufräumen, beim Malen, beim Schnuller-Abgewöhnen, beim Danke- und beim Guten-Tag-Sagen, beim Winke-Winke-Machen und beim Angucken-wenn-ich-mit-dir-rede. Und später auch beim Lesen, beim Schreiben, beim Rechnen und bei den vielen anderen Sachen, die Kinder brauchen, um im Leben bestehen zu können.
Tina hat aber ein anderes Bild vom Kind und den Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern: Das Kind ist von Geburt an ein kompetentes und soziales Wesen, das mit seinen Bezugspersonen kooperieren möchte.[1] Es ist mit seinen Bedürfnissen und Rechten „sozialer Akteur“ oder „Akteur seiner selbst“, es hat die Rolle als „Hauptfigur seiner oder ihrer eigenen Entwicklung“ inne und konstruiert sich sein Bild von der Welt selbst. Jedes Kind ist ein Individuum, das eine ganz eigene Weltsicht hat und seine individuelle Identität ausprägt.[2] Nicht: Hier oben der Erwachsene, der schon ein richtiger vollwertiger Mensch ist und da unten ein junger Mensch, der Erziehung und Bildung braucht, um ein richtiger Mensch zu werden. Sondern ein anderes Bild: Kinder sind vollwertige Menschen von Geburt an und für sich selbst verantwortlich. Sie gehören sich selbst, sind „Chef“ im eigenen Haus. „Es wird die Gleichwertigkeit aller Phänomene als Grundlage anerkannt. Niemals steht etwas wirklich über dem anderen, Weiße nicht über Schwarzen, Männer nicht über Frauen, Regierende nicht über Regierten, Menschen nicht über der Natur, Philosophien nicht über Philosophien, Religionen nicht über Religionen, Kulturen nicht über Kulturen und auch nicht Erwachsene über Kindern.[3]
Wie würde sich das Leben anfühlen, mit Kindern und Erwachsenen, die dieses andere Bild in sich tragen?
Von Gleich zu Gleich“ meint Hubertus von Schoenebeck: „Erwachsene haben ihre Identität, Kinder haben ihre Identität. Und wie immer ihre Identität ist und sich entwickeln mag, sie existiert und ist bei aller Verschiedenheit doch gleichwertig. Vor dieser real existierenden Identität eines jeweiligen Erwachsenen und dieser real existierenden Identität eines jeweiligen Kindes aus werden Beziehungen hergestellt. Von Person zu Person, von Identität zu Identität, von Ich zu Ich. Der Erwachsene sucht seinen Weg zum Kind vom Ich her, er bringt sich mit den Facetten seiner Persönlichkeit in die Beziehung zum Kind ein, so wie er das jeweils will und kann. Er ist dabei ohne Mission, ohne Auftrag, ohne Methodik, ohne List. Er ist authentisch, situativ, flexibel: er ist eben so, wie er gerade ist, mit Ecken und Kanten, Vorschlägen und Ermutigungen, Grenzen und Hoffnungen.“[4]
Und so lässt Tina ihr Tageskind Lea in Ruhe forschen. Wenn Lea den Wusch nach Interaktion mit Tina hat, meldet sie sich. Tina ist Ressource und Trost, Unterstützung und Stützpunkt. Es stört Lea auch nicht, als Tina beginnt, das Mittagessen zuzubereiten. Sie ist ja trotzdem ansprechbar für Lea. Frieden breitet sich aus. Beide genießen diesen Zustand sichtlich.
Nun könnte Tina unterstellt werden, dass sie sich von ihren Tageskindern abwendet, wenn sie das neue Bild vom Kind in sich trägt, wenn sie keinem Auftrag, keiner Mission mehr nachgeht. Aber warum sollte sie das tun? Es geht ja nicht die Liebe zum Kind verloren, wenn die bisherige Sicht vom Kind beendet wird. Sie wendet sich also ihren Tageskindern zu, so wie dies Erwachsene mit dem bisherigen Bild vom Kind auch tun, aber jetzt eben ohne den Auftrag, aus einem jungen Menschen einen vollwertigen Menschen zu machen. Sie begegnet ihren Tageskindern von Gleich zu Gleich, in Anerkennung aller Unterschiede. Wie in Afrika, bei Männern und Frauen, in der Politik und anderswo.[5]
Und wie ist das nun mit der Bildung? Auf welche Weise lernen Kinder, wenn sich Erwachsene der neuen Sicht vom Kind bedienen? Forscher behaupten, dass das Kind seine Bildungsprozesse selbst initiiert und steuert, wenn es sich sicher und geborgen fühlt in Beziehungen mit Menschen, die das neue Bild vom Kind leben. Dass das Kind, angetrieben durch seine angeborene Neugier und die Gewissheit, dass es schon von Anfang an ein vollwertiger, für sich selbst verantwortlicher Mensch ist, exploriert, nach außen strebt, um seine Umwelt spielerisch zu erkunden, mit ihr zu kommunizieren und eigene Erfahrungen zu sammeln. Dass es, wenn es auf diesen Abenteuern durch irgendetwas, noch nicht Vertrautes verunsichert wird, zurückkehrt zur sicheren Basis, zu seiner Bezugsperson, zum Beispiel seiner Mutter, Tagesmutter oder Kita-Erzieherin. Die braucht es in diesem Moment zuverlässig, um Sicherheit und Geborgenheit „auftanken“ zu können, um danach erneut nach dem „Abenteuer Bildung“ Ausschau zu halten.[6] Unter solchen Rahmenbedingungen finden Prozesse statt, die die Forscher als Selbstbildung bezeichnen. Es findet eigenverantwortliches und interessengeleitetes Lernen statt, das auf ein „inneres Ziel“ des Kindes ausgerichtet ist[7]. Kinder sind von Geburt an mit allen Kräften bemüht, sich ein Bild von der Welt zu machen und ihre Fähigkeiten ständig zu erweitern. Sie „be-greifen“ forschend ihre Umgebung, stellen sich „Untersuchungsfragen“ und suchen nach Antworten. Im Laufe ihrer Entwicklung erweitern sie ganz ohne Aufforderung ihre Wirkungskreise – und stellen sich auf diese Weise ihr eigenes „Bildungsprogramm“ zusammen.[8] Die Kinder bestimmen also selbst, wann sie lernen, wie sie lernen und natürlich auch was sie lernen. An Leas Verhalten können wir Erwachsenen diese Erkenntnisse gut nachvollziehen. Wenn Tina sie bei ihrer Beschäftigung mit dem Puppenwagen beobachtet ist unübersehbar: Da findet Lernen statt. Auch als plötzlich mitten in  Lea´s Spiel ein Mensch in der Tür steht, den sie noch nie gesehen hatte, nämlich die Großmutter der Tageselternfamilie, verhält sich Lea wie erwartet: Sie kommt schnell zu Tina gekrabbelt, um sich bei ihr Sicherheit zu holen.
Nun könnten wir Erwachsenen einwenden, dass so etwas vielleicht nur mit ganz kleinen Kindern funktioniert. Bildung ohne vorgegebene Ziele, ohne Methoden zu ihrer Durchsetzung, ohne Druck? Spätestens wenn die Schule naht, es „Ernst“ wird, muss die Spielerei doch aufhören. Wie sollen Kinder sonst den Anforderungen der Schule, gar des Lebens genügen? Am Ende bekommen sie keine Lehrstelle, wenn sie groß sind, und was dann?
Fragen wir doch an dieser Stelle Lea. Wie würde sie uns auf diese Fragen antworten? Sicher etwa so: Liebe Erwachsene, nicht die Nerven verlieren, heitere Gelassenheit ist angesagt. Ihr könnt das Vertrauen in eure Kinder wagen, dass sie selbstbestimmt lernen, was sie für ihr Leben brauchen. So wie bei mir funktioniert es auch bei anderen Kindern. Sie spüren, wenn ihr das neue Bild vom Kind in euren Köpfen und Herzen tragt und ohne Auftrag und ohne List daherkommt. Es tut ihnen gut, wenn ihr in gleichwertigen Beziehungen mit ihnen lebt. Sie schauen auf euch. Und was ihr drauf habt, schaffen eure Kinder allemal, falls es ihnen lohnenswert erscheint und ihr sie in Ruhe forschen lasst. Natürlich brauchen sie auch Gelegenheiten zum Forschen, zu Hause oder während der Tagesbetreuung; alleine, mit anderen Kindern und mit euch. Am liebsten ist es ihnen, wenn das wirkliche Leben stattfindet. Wenn eure Angst um ihre Zukunft nicht weniger wird, könnt ihr euch ja zusammenschließen, zu so einer Art Selbsthilfegruppe, und euch gegenseitig stützen. Ihr wollt doch, dass euch kreative, offene, sozial handelnde und selbstverantwortliche Menschen gegenüberstehen! Wir Kinder jedenfalls wollen es, denn wir werden in unübliche Richtungen denken müssen, um die Probleme unserer Zukunft lösen zu können. Es werden nämlich  Herausforderungen sein, die ihr euch in euren kühnsten Träumen nicht vorstellen könnt.
Allerdings haben wir Kinder die Befürchtung, dass ihr das mit dem neuen Bild vom Kind nicht bis zu Ende durchsteht. Dass ihr uns zwar immer wieder davon erzählt, euch heimlich aber doch ausdenkt, wo ihr uns hinhaben wollt. Damit ihr eure kulturelle und zivilisatorische Mission erfüllen könnt, die ihr glaubt zu haben: Aus uns richtige Menschen zu machen, uns zu bilden, zu formen und zu lenken. Uns die richtigen Werte mitzugeben und an ein Verhalten zu gewöhnen, das uns überlebenstüchtig macht. So wie ihr es von den Erwachsenen eurer Kindheit erfahren habt. Schon der französische Philosoph und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau forderte 1760 in seinem Buch „Emile oder Über die Erziehung“: „Lasst ihn (den Zögling, H.v.S.) immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen … Zweifellos darf es (das Kind, H.v.S.) tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, dass es es tut.“[9] Deshalb werden wir genau hinsehen, ob ihr es ernst meint mit dem neuen Bild vom Kind. Wenn es euch hilft, denkt einfach immer an das alte afrikanische Sprichwort: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“
Tatsächlich gibt es heute bereits genügend Erkenntnisse aus Modellprojekten und Erfahrungen aus der Praxis, die bestätigen: Kinder entwickeln sich prächtig unter dem neuen Bild. Mit weniger als sechs Jahren bringen sie Dinge zu Stande, die einer Schulbehörde bei einer Einschulungsüberprüfung die Sprache verschlagen würde. Allerdings bleibt ein gewisses „Risiko“ für uns Erwachsene: Wenn Kinder in Zukunft nicht nur selbst bestimmen, wann sie lernen und wie sie lernen, sondern auch was sie lernen, könnten diese Kinder eines Tages eine andere Welt als unsere heutige bevorzugen. Und dann wird es vielleicht nicht mehr so wichtig sein, lebendige Tiere in einem ZOO zur Besichtigung auszustellen. So wie es uns heute nicht mehr wichtig ist, Menschen aus fernen Ländern auf Jahrmärkten und im Zirkus gegen ihren Willen zur Schau zu stellen.
Lea ist inzwischen stolze zwei Jahre alt und fühlt sich wohl auf dieser Welt. Sie kann laufen und sprechen und viele andere tolle Sachen. Niemand hat es ihr in didaktisch fein aufbereiteten Häppchen beigebracht. Sie hat es selbst gelernt. Unterstützt haben sie dabei Erwachsene, die das neue Bild vom Kind ausstrahlten, die sich mit Lea auf gleichberechtigte Beziehungen einließen. Und das Wichtigste: Niemand nahm Lea die Selbstverantwortung weg. Sie erfährt die Erwachsenen ihrer Kindheit als Menschen, die sie nicht in ihren Selbstbildungsprozessen stören; bis jetzt jedenfalls. Den Puppenwagen fährt sie übrigens inzwischen hin und her. Auch um das darin liegende Püppchen kümmert sie sich hinreißend. Mit den anderen Tageskindern kommt sie prima aus und von ihrer Neugier hat sie kein Stück eingebüßt.
Im Freistaat Sachsen haben sich Menschen auf den Weg gemacht, die neue Sicht  vom Kind für sich zu erschließen. Die Technische Universität Dresden hat dazu einen Bildungsplan in Form eines Leitfadens für pädagogische Fachkräfte in Kinderkrippen und Kindergärten erarbeitet. In diesem, als Entwurf vorliegendem Werk, sind das neue Bild vom Kind und ein neues Bildungsverständnis beschrieben. Auch Tagesmütter, Tageskinder und deren Eltern sind vom Thema frühkindliche Bildung betroffen. Die Technische Universität Dresden wird deshalb im Auftrag des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales im kommenden Jahr ihr Projekt „Sächsischer Bildungsplan“ um die Betreuungsangebote Kindertagespflege und Hort erweitern. Die Tagesmütter werden sich in diesen Prozess einbringen. Sie freuen sich darauf und sind gespannt. 
(Autor: Stephan Kirsche, Dresden, Sprecher des Landesarbeitskreises Kinderbetreuung in Tagespflege Sachsen und Geschäftsführer des Tagesmüttervereins SONNENAU Kinderbetreuung in Tagespflege Dresden e. V.)


[1] vgl. Weiß, K., u. a., Kap. 24, S. 4
[2] vgl. Sting, S., u. a., S. 15
[3] Hubertus von Schoenebeck, Amication, S. 4
[4] dto., S. 5
[5] vgl. Schoenebeck, H. v., Amication, S. 6
[6] vgl. Grossmann, K. E. und Grossmann, K.
[7] vgl. Sting, S., S. 15
[8] vgl. Weiß, K., u. a., Kap. 24, S. 4
[9] vgl. Schoenebeck, H. v., Kinder der Morgenröte, S. 60


Literatur
[1]  Grossmann, K. E., Grossmann, K., Die Bedeutung der ersten Lebensjahre für die Persönlichkeitsentwicklung – Ergebnisse der Bindungsforschung
[2]  Grossmann, K., Merkmale einer guten Gruppenbetreuung für Kinder unter 3 Jahren im Sinne der Bindungstheorie und ihre Anwendung auf berufsbegleitende Supervision, 1998
[3]  Schoenebeck, H. v., Amication, Hrsg.: Freundschaft mit Kindern Förderkreis e. V., 2004
[4]  Schoenebeck, H. v., Kinder der Morgenröte, Hrsg.: Freundschaft mit Kindern Förderkreis e. V., 2004
[5] Sting, S., u. a., Der sächsische Bildungsplan – ein Leitfaden für Pädagogische Fachkräfte in Kinderkrippen und Kindergärten, Entwurf, Hrsg.: Technische Universität, Dresden
[6]  Weiß, K., u. a., Qualifizierung in der Kindertagespflege, Hrsg.: Deutsches Jugendinstitut, München