Der Wege Zahl ist nahezu unendlich. Welchen Weg soll ich gehen? Doch sind die Ziele denn klar? Das ist ja oft der Fall. Dann will ich ins Kino oder in den Wald oder an den Schreibtisch. Oder ich will mit den Kindern etwas unternehmen. Oft ist es aber auch einfach unklar. Im Detail oder überhaupt. Will ich diesen Job noch? Bringt's diese Beziehung denn? Was soll ich die nächsten freien Stunden anfangen? Brauche ich dieses und jenes wirklich?
Was gibt Orientierung? Was gibt Halt? Auf welchem Weg bin ich eigentlich in meinem Leben, und wohin? Kleine Fragen zum Tag und große Fragen zum Sinn sind um uns herum. Wenn man sie sehen könnte, wäre der Raum voller Farbe. Ich bin der Mittelpunkt des Universums. So weit, so gut. Aber der ist ja nicht unbeweglich, sondern Dynamik des Lebens. Mal ruhend, mal rasant.
Wer weiß schon, wo die Reise letztlich hingeht? Gibt es ein wirkliches Ziel für den Lebensweg? Stolpern wir nicht nur durchs Gestrüpp der unzähligen großen und kleinen Ereignisse und Gegebenheiten? Lässt sich da ein Weg ausmachen, einer, der halbwegs in eine erkennbare Richtung weist?
Man muss sich über dieses ganze Weg- und Zielszenario ja keine Gedanken machen. Aber man kommt doch immer wieder dazu. Silvester ist dafür sehr geeignet. Aber auch sonst. Auf den Vorträgen über den Umgang mit Kindern erlebe ich die Eltern oft als Unkundige. Unkundig über den richtigen Weg zu den Kindern. Sie gehen aber davon aus, dass es einen solchen guten Weg gibt, und sie hätten von mir gern gewusst, wo er denn ist.
Ich erzähle dann von meinem Weg zu den Kindern. Von der gleichen Augenhöhe, von mir als Ausgangspunkt der Beziehung. Davon, dass im Zusammensein mit den Kindern eben auch mein Montag, mein Abend, mein 31. oder 42. oder 53. oder 64. Jahr verstreichen. Statt auf den Weg zu starren, den sie nicht finden können, lasse ich sie auf sich selbst sehen. Auf das Kind, das ihnen zuallererst anvertraut ist. Von daher können sie dann mit neuem Blick zu ihren Kindern schauen.
Wir sind uns anvertraut. Vom Leben, von der Liebe. Das ist erst mal eine Grundorientierung. Hier bin ich! Was immer ich bin, auch das weiß ja letztlich niemand. Was wir für Wesen sind? Ich merke, dass ich existiere. Illusion? Ich finde statt: und das ist ja schon mal eine ganze Menge. Muss eigentlich mehr sein? Das Mehr, das, was um mich herum komponiert ist, wird sich nicht vermeiden lassen. Und ist ja auch willkommen. Schau'n wir mal, wie ich mich darauf einlasse.
Wege? Ziele? Na ja, das sind zwei von diesen zig Phänomenen, die auf mich einstürmen. Reicht es nicht, wenn ich da einfach mal herumstreiche und mir das alles so ansehe und mit vorsichtigen Katzenpfoten dies und das berühre? Wieso wegt und zielt es so unerbittlich in uns? Lassen wir doch die Wege und Ziele sich selbst gehören, so, wie wir uns gehören. Muss ich die Marionette von Wegen und Zielen sein?
In der ganzen Rastlosigkeit des Tages und des nächsten Tages und des übernächsten Tages kann man sich auch mal anhalten und es gut sein lassen. Sich einfach auf eine Bank setzen oder rausgehen. „Ich ging im Walde so für mich hin.“ Und gut. Die Eltern vergessen wie wir alle, dass es einfach ausreicht, stattzufinden. Anderes ist sowieso nicht möglich, nur dass wir meinen, es müsse mehr sein als das Augenblickliche. Es müssten Wege gefunden werden und Ziele aufscheinen. Ja, wer da so jemand sein will! Und es könnte ja auch Freude machen, als Pfadfinder unterwegs zu sein. Man muss nicht nur gestresst an den Strippen unserer Wege-Ziel-Kultur hängen.
Haben wir als Kinder Wege und Ziele gehabt? Schon mal, aber grundsätzlich galt etwas anderes als Modus vivendi: wir waren einfach bei uns. Und in diesem Ich-bin gelangten wir hierhin und dorthin und überdorthin, so, wie es sich ergab. Spiel genannt. Das muss man sich nicht aus der Hand und der Seele winden lassen, nur weil man groß und erwachsen wird und geworden ist. Das Leben als dieses Verwobensein von Spiel und Spiel und Spiel. Das ist eine entspanntere Art, mit sich umzugehen, als nach dem rechten Weg zu suchen und die wahren Ziele einzufordern.
Wenn ich die Eltern so auf sich selbst zurückführe, sind sie erstaunt. Natürlich kennen sie das, jeder von uns war als Kind in diesem Immer-wieder-Glück. Darf man so mit seinen Kindern unterwegs sein? Was ist mit den Wegen und Zielen? Jeder gehört sich selbst, und nichts steht über uns, auch keine Wege und keine Ziele. Dass diese Ichstärke nicht egoistisch macht, sondern empathisch, erklär ich dann schon. Selbstliebe schaut nach dem Nächsten.
Es ist ein großes Misstrauen da, dass es ohne unsere Anstrengungen nichts wird. Alles. Die Kinder, die Partnerschaft, Ich. Vertrauen ist aber nicht verboten, es ist möglich und eine Einladung: sich fallen zu lassen in den Tag, zu den Kindern, zum Partner. Die anderen sind ja da, und ihr Dasein fängt mich auf. Dieser Planet existiert, und er trägt mich. So wie jeden Baum und jede Nachtigall. Die unsichtbare Kraft, die das alles trägt, ohne Wege und Ziele. Ich kann sie in mir sich bilden lassen, und mich dieser Bildung anvertrauen. Ich kann mir Liebe als Grundprinzip des Kosmos einbilden und es mir leicht machen.
Reicht eine solche Basisvermutung? Wofür? Für das Leben? Den Umgang mit den Kindern, dem Partner, der Welt? Wer will wissen, was reicht? Was für mich reicht? Muss ich das wissen? Wege, Ziele, ja mei, was noch alles. Ich suche mir aus dem großen Angebot des Existenztopfes das heraus, was mir gefällt, souverän wie ich bin. Lese ein Buch oder eben keins. Menschen gibt es seit drei Millionen Jahren. Bücher für den Umgang mit Kindern, mit dem Partner, mit sich selbst – ja, die gibt es auch. Aber niemand braucht sie wirklich zum Leben.
Die Besucher in den Vorträgen und Seminaren wollen Sicherheit. Ein Fachbuch steht für die Gedanken eines Experten und für einen Weg und ein Ziel. Da hätten sie gern mehr davon. Und da sind sie nicht allein! Wen gibt es schon, der keine Bücher (Gedanken der anderen) für den eigenen richtigen Weg zum Glücksziel in die Hand nimmt? Sind meine Texte nicht auch von dieser Art? Ja schon, aber puste in die Seiten, denk ein bisschen nach und las es gut sein. Man kann nichts wirklich falsch machen. Also hört man sich mal um, aber nur so, und dabei gibt es ja auch immer wieder Schönes zu entdecken, auch Wege und Ziele. Nicht als Last, sondern zur Freude.
Winter, Schnee. Zwischen zwei Bäumen, Materie gewordener Konstruktivität in knorrigen Stamm und majestätisches Geäst, ist Luft. Man sieht nichts. Ich sehe dazwischen. Ich sehe zwischen diesen beiden kosmischen Boten in gleicher Weise diese grandiose Konstruktivität, sie ist überall und mal mehr, mal weniger anfassbar. Einbildung, klar, aber ich forme da etwas in mich, so wie ich das will. Und dann fahre ich in dieser großartigen Schneelandschaft der Liebe mit meinem Schlitten herum, dass es nur so stiebt. Bis ich wieder anhalte und anderes mache.
Lassen wir uns nicht verrückt machen von diesen Wege- und Ziele-Anforderungen. Gemach, gemach. Ich bin da, die Kinder sind da, der Partner ist da, das Leben ist da. Das reicht. Der Rest kommt dann schon. Und wenn es denn wirklich Wege gibt, die zu wirklichen Zielen führen: kann ich ja auch gehen, schließlich habe ich Füße und Gedanken. Aber das alles bleibt meins. Meine Wege. Meine Ziele. Mein Spiel. Und meine Freude.