Was bedeutet eigentlich »Selbstverantwortung«? Es wird eine klare Antwort erwartet. Ich gebe sie: »Selbstverantwortung ist, wenn jemand selbstverantwortlich ist. Wenn er, nicht ein anderer, für sich die Verantwortung trägt.« Ist die Antwort zu dünn? Unscharf? Unsinnig?
Ein Beispiel wird bemüht: Das Auto fährt einem Fußgänger das Bein ab. Ist da Selbstverantwortung im Spiel? Ist der Fußgänger dafür selbst verantwortlich, dass das Bein ab ist? Natürlich nicht! Oder? Wer ist dafür verantwortlich, dass der Fußgänger an dieser Stelle war? Musste er dort sein? Wer ist dafür verantwortlich, dass dieser Fußgänger überhaupt existiert? Ohne Fußgänger kein Bein ab! Seine Eltern? Das genetische Programm »Mensch«? Adam und Eva? Gott? Und wer ist für das Auto verantwortlich? Ohne Motor würde das Auto nicht fahren. Wer stellte den Motor her? Wer gewann das Eisen des Motors aus dem Berg? Wieso hatte dieser Berg überhaupt Eisen? Wo kam der Berg her? Woher kommt die Erde? Ist das Auto selbstverantwortlich? Ist der Fußgänger selbstverantwortlich? Ist der Motor selbstverantwortlich? Ist das Bein selbstverantwortlich?
Was soll das? Gegenfrage: Worum geht es Dir, wenn Du nach der Selbstverantwortung fragst? Um Klarheit? Um Wahrheit? Um Macht? Um das bessere Wissen? Gibt es besseres Wissen? Ach ja? Woher die Weisheit? Zurück auf den Boden der Tatsachen!
Noch ein Beispiel. Jetzt eins, wo es kein Ausweichen gibt. Klare Situation:
Der Räuber Hotzenplotz schlägt Kasperls Großmutter nieder. Großmutter hat einen Bluterguss. So: Wer ist für den Bluterguss verantwortlich? Klar: Hotzenplotz. Oder sein Stock? Oder der Mann, der den Baum pflanzte, von dem der Stock ist? Ist Großmutter für ihren Bluterguss selbst verantwortlich? Ihre Haut? Ihr Blut?... Nicht schon wieder dieser uferlose Unsinn!
Wer sagt, was Sinn ist? Der gesunde Menschenverstand! Wer hat den? Der, der sagt, dass er ihn hat? Der Wissenschaftler vor dem Stammtischbruder? Der Europäer vor dem Afrikaner? Der Mann vor der Frau? Der Priester vor dem Laien? Du vor mir? Ich vor dir? Worum geht es eigentlich? Um eine klare Antwort auf eine einfache Frage. Was aber ist klar? Was ist einfach? Es geht schon wieder los ...
Es geht um etwas anderes. Um Kommunikation, um Beziehung, um Mit-Sein, um Austausch, um Sich-Erleben im Anderen, um: menschliche Existenz. Um das »Wer bin ich« und das »Wer bist Du« und das »Was ist die Welt« und das »Wer bin ich in der Welt« und so weiter. Es geht um eine existentielle Thematik. Jede Sachfrage hat dies als Untergrund. Es schwingt unter jeder Sachfrage Tausenderlei mit: Denkschulen, Religionen, Ängste, Träume, Traditionen, Machtfragen, Eitelkeiten, Hass, Liebe, Tod, Leben.
Der Sachbegriff »Selbstverantwortung« ist wie jeder andere Sachbegriff auch (Auto, Motor, Holz ...) eben nicht lediglich ein Sachbegriff. Und wer »Selbstverantwortung« nur so (sachlich) sehen und nur darüber ins Gespräch kommen will, legt vorher etwas fest: nur so (sachlich) darüber zu reden. Und diese Festlegung trifft er auf der existentiellen Ebene. Es gibt Begriffe (wie Auto, Motor, Holz), da wird die existentielle Ebene kaum eine Rolle spielen. Wir reden dann über Autos, sonst nichts. Tatsächlich? Wenn man über Autos redet, diskriminiert man allein dadurch, dass man Autos für der Rede wert hält, die Natur. Oder die Kinder, die von Autos gefährdet werden. Oder.
Wenn das Thema aber »Selbstverantwortung« heißt, und wenn zum Ausdruck gebracht wird, dass damit eine ganze kulturelle Ebene (die der Erziehung/des Patriarchats/der Hierarchie/der Moderne/...) verlassen wird, wie kann da eine einfache Antwort helfen?
Wie kann man über Amication ins Gespräch kommen, in ein Gespräch, das fruchtbar ist? Fruchtbar für wen? Für mich, für Dich. Wollen wir über die Thematik von Existenz (meiner) und Existenz (Deiner) ins Gespräch kommen? Wollen wir uns überhaupt als Personen begegnen (oder als Verstandescomputer, personenneutral? Und geht so was überhaupt...)?
Was willst Du von mir, wenn Du mich fragst: »Was bedeutet eigentlich ›Selbstverantwortung‹?« Auf welchen Pfaden wandelst Du? Sachlich – gibt es nicht, jedenfalls nicht so, nicht bei dieser Frage, die ja mit der gesamten postmodernen und amicative Sicht zu tun hat. Willst Du mit mir ein Stück gemeinsame Lebenswegstrecke gehen, und wir teilen uns mit, was wir rechts und links sehen? Oder willst Du sagen, was wirklich ist, und ich sollte das einsehen?
»Selbstverantwortung« ist ein praller Begriff, prall voll Leben. Er ist ein sehr gutes Eingangstor in die amicative Welt. Niemand muss ihn nutzen. Niemand muss zu diesem Tor gehen, niemand es durchschreiten. Aber man kann all das tun. Sich entscheiden im Unendlichen: Ich bin.
Es geht mir, wenn ich mit einem anderen Menschen zu tun habe, um Kommunikation. Um Ich-Du. Um Existentielles. Die Sachfragen, die wir erörtern (z.B.: Was ist Selbstverantwortung?), sind auch interessant. Auch. Wie lassen sich Sachfragen erörtern? Viele Antworten. »Sachlich« ist eine. Eine! Von vielen. Die richtige? Für Dich richtig? Was ist für mich richtig? Steht die Sache über der Person? Gibt es Sachen unabhängig von Personen? Gibt es die Welt unabhängig von mir? Gibt es draußen, außerhalb von mir, Wirklichkeit? Wer sagt das? Gibt es nur Wirklichkeit in mir? Mache ich – wie jeder Mensch – die Wirklichkeit? Wer sagt, dass das richtig (was ist das?) ist?
Es gibt Bilder, die das einfangen, was ich sagen will: das Bild vom Mosaik, vom Mandala, von der Kontingenz. Wenn wir mit jemandem über Amication ins Gespräch kommen, entwickelt sich ein feines Gewebe im Hin und Her. Wir zeigen dem Neugierigen etwas von unserer Sicht der Dinge. Mal versteht er, mal nicht, mal ist Nähe, mal Distanz spürbar. Kommunikation, auf vielen Ebenen. Unweigerlich kommt dann die Frage »Was verstehst Du eigentlich unter ›Selbstverantwortung‹?« Diese Frage und die Antwort und die Nachfrage und die Nachantwort und alle dann folgenden Hin und Her sind wie eine Wasserscheide: »Kommst Du mit? Was willst Du? Du kannst jederzeit wieder gehen. Hier bin ich: Ich bin auch auf Dich neugierig. Was Du dazu meinst, zu dem, was mir wichtig ist – zu dem der ich bin – zu mir. Und zu meiner Art, die Welt zu sehen und mich darin zurechtzufinden. Und zu Dir, wer Du bist, und zu Deiner Art.«
Eine klare, knappe Definition zu »Selbstverantwortung« wäre schal, dürr, leblos: chancenlos, etwas von dem zu vermitteln, was mir wichtig ist. Also: Auf ins Gespräch! In die Begegnung! In das Abenteuer Ich-Du. Unsere Beziehungen zu Kindern sind Abenteuer-Beziehungen. Ich-Du-Beziehungen. Personale Begegnungen. Voll Authentizität, Kongruenz, Ehrlichkeit. Eben: Existentiell. Sie sind fruchtbar, konstruktiv, hilfreich. Genau so sind die Gespräche, die vor, am und hinter dem Tor »Selbstverantwortung« stattfinden.