Die "neuen" Tagesmütter und Tagesväter – Professionalität mit menschlichem Antlitz




Wenn man angeleitete und von außen bestimmte Kinder im Sinn hat, muss der Erwachsene entsprechend anleiten und das Lernen der Kinder von außen, d.h. von seinen Vorgaben her bestimmen. Derartiges hat eine lange Tradition, ist voll bester Absicht und meist von großem Engagement – aber immer wieder fruchtlos und für beide Seiten frustrierend. „Ich komme an die Kinder gar nicht richtig heran“ schwingt dann beim Erwachsenen mit, der gesenkte und verschlossene Blick und das stumme „Lass mich in Ruhe!“ ist die korrespondierende Grundstimmung des Kindes.
Es gibt heute ein neues Bild vom Kind und ein neues Bildungsverständnis: Ein Kind kann nicht (passiv) gebildet werden, sondern es kann sich nur selbst (aktiv) bilden. Wenn man das ernst nimmt, kann man kein Kind mehr  direktiv anleiten und kann man kein Lernen mehr nach den eigenen Vorgaben bestimmen. Dann ist es aus mit der traditionellen Aufgabe und Rolle der missionierenden Fachleute, so bemüht und gutwillig sie auch sind. Dem neuen Bild vom Kind als einem aktiven innen gesteuertem Wesen tritt dann ein entsprechendes neues Bild des Erwachsenen zur Seite, der sich um die Bildungsprozesse dieses - „neuen“ - Kindes kümmert.
Der traditionelle Erwachsene war oft pädagogisch (vor- bzw. ausgebildet und verstand sich um so professioneller, je mehr er als Person zurücktrat zugunsten all dessen, was er als gut und Ziel führend für die kindliche Bildung erlernt hatte. Er ging wie mit dem weißen Kittel des Fachmanns zum Kind, um es entsprechend seiner Professionalität zu fördern. Wen er hinter dem weißen Kittel verbarg, war unwichtig, ja störend. Seine Stimmungen und Gefühle, seine Person störten das, was seine Aufgabe war. Er hatte alles Persönliche zurückzustellen, um frei von diesen persönlichen Irritationen ganz für das Kind da zu sein, als fachlich versierter Experte.
Die „neuen“ Kinder werden nicht länger als zu missionierende Wesen angesehen, sondern als sich selbst gehörende Geschöpfe, mit innerer Souveränität und unantastbarer Würde, als Personen, die ihren eigenen Bildungspfaden folgen, so, wie diese sich ihnen nach eigenen Gesetzen eröffnen. Diese Kinder benötigen für ihre Entwicklung Personen, keine Experten im weißen Kittel. Leibhaftige Personen, mit Ecken und Kanten, Haken und Ösen. Persönliche Wahrhaftigkeit ist gefordert, „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ statt „Sieh das ein, ich habe recht“. Sich trauen, Umleitungen, Irrwege und Fehler riskieren, Mut zum Nichtüberschaubaren haben, einen  Schuss Surrealismus und Nonsens mitbringen, Zufall und Spielerei statt zielgerichteter Effektivität wichtig finden, sich treiben lassen in die Beziehung zum Kind und in den Augenblick statt alles und jedes gekonnt inszenieren.
Das Motto dieser neuartigen Professionalität könnte sein „Wir hatten einen schönen Tag“. Mehr muss nicht sein. Wer auf Kinder aus sich heraus zugeht, ohne List und Hinterlist - der erreicht sie auch. So einfach ist das. Und so schwer: denn gegen dieses humane  Prinzip der persönlichen Wahrhaftigkeit  steht die Wucht und Macht eines pädagogischen Effektivismus, der bis ins letzte Detail genau weiß, wie so ein Vormittag zu laufen hat. Nichts da! Niemand weiß, wie so ein Vormittag laufen wird! Personen treffen sich, die Tagesmutter oder der Tagesvater und die Kinder, ein jeder mit seinem aktuellen und situativen Hintergrund, und diese Personen gehen miteinander um. Derartige Begegnungen von Person zu Person laufen in unzähligen Varianten und Nuancen ab, nicht gesteuerte Beziehungen zwischen einem präsenten Erwachsenen und sich bildenden Kindern.
Der „neue“ Erwachsene und das „neue“ Kind sind gleichwertig, und ihre Würde ist gleichgewichtig. Sie sind gleichkompetent für das eigene Lernen, die eigene Entwicklung, die eigene Bildung. Selbstverständlich lernt, entwickelt und bildet sich bei einer solchen rehumanisierten Kommunikation auch der Erwachsene: er ist offen für die Große Vielfalt der Kinder und schwingt in ihre Aktivitäten ein. Wobei er immer wieder auch an seine (Erwachsenen)Grenzen stößt, die er gewahrt wissen will und die er auch gegen die Kinder durchsetzt, wenn ihm das aus seinen subjektiven Gründen wichtig und unverzichtbar ist. Oder die er verschiebt.
Der „neue“ Erwachsene ist unendlich befreit: nichts muss er wirklich und „objektiv nötig“ und „pädagogisch unabdingbar“ tun! Er entscheidet souverän, was zu tun ist, aus seiner Erfahrung heraus, seinem Wissen  folgend oder intuitiv, situativ, fehleroffen, gestresst oder entspannt, sich selbst spürend, seinem Engagement und seiner Liebe zu den Kindern nachgebend. Er muss nicht dieses oder jenes tun – er kann dieses oder jenes tun! Und er tut es, er handelt, er verweigert sich nicht, er ist klar erkennbar, ist Position und Orientierung: „Seht, hier bin ich und das tue ich!“ und „Das sind meine Werte und Grenzen, meine Gefühle und Absichten.“  Er legt sich offen, er ist offen. Er ist in lebendiger Kommunikation mit den Kindern. Die Zeit, die er mit den Kindern verbringt, ist auch seine eigene Lebenszeit, die ihm und niemandem sonst gehört, auch nicht den Kindern, auch nicht ihren Bildungsprozessen. „Wer bin ich?“ und „Was will ich wirklich?“ ist der Boden, auf dem er steht, und von dieser existentiellen Position aus macht er sich auf zu den Menschen vor ihm, um Jahre jünger, aber von gleicher Art. Beide gehören sich selbst und begegnen sich.
Wie gelingt eine solche Kommunikation auf gleicher Augenhöhe? Wie gelingt eine solche Beziehung zwischen Männern und Frauen, Weißen und Schwarzen, Christen und Muslimen? Wie immer, wenn vormals Oben-Unten-Positionen überwunden werden und das Paradigma der Gleichwertigkeit die Kommunikation bestimmt. Erwachsene lernen traditionell, über Kindern zu stehen, Recht zu haben, sie zu erziehen. Doch vor dem Erwachsenwerden konnte jeder Erwachsene die Gleichwertigkeit realisieren – in der eigenen Kindheit, von Kind zu Kind. Wir alle tragen tief in uns diese ursprüngliche Art des Umgangs mit Kindern, hunderttausende, Millionen von Jahren überliefert. Und wer sich nicht verdrehen, verschieben, verbilden lässt durch ein traditionelles aus dem Maschinenzeitalter kommendes pädagogisches „Expertentum“, der bleibt sein Leben lang bei diesem intuitiven Wissen. Oder er erobert es sich zurück. Hier sind Seminare und Schulungen für Tagesmütter und Tagesväter in den Blick zu nehmen: Wie kann ich mich vom traditionellen Oben-Unten-Denken den Kindern gegenüber, vom Adultismus emanzipieren? Wie finde ich meine authentische Kommunikation zu den Kindern wieder? Wie kann ich sie ausbauen? Sich selbst kennen lernen und zu sich stehen, als Person reifen.  Hier beginnt die neue Professionalität. Vielfältigste Details müssen von hier aus abgeleitet und gefunden werden. Eine große Herausforderung.
Fazit: Die „neuen“ Tagesmütter und Tagesväter bieten durch ihre unverbildete Präsenz und durch ihre Authentizität Kindern eine spezifische Verlässlichkeit, die den Kindern Raum und Rahmen gibt für ihre selbstgesteuerten Bildungsprozesse. Dies ist eine Professionalität mit menschlichem Antlitz.
Wo führt so etwas hin? In die Lebendigkeit und das Glück personaler Beziehungen und in das selbstverantwortete Erkunden der Welt durch die Kinder. Ich bin seit vielen  Jahren in der Familienbildung tätig und habe unzählige solcher Begegnungen erlebt. Wie man sie aber nur erleben kann, wenn man die Pädagogik rehumanisiert und die neue Professionalität  der Authentizität ernst nimmt. Ich erzähle gern ein Beispiel:
Melanie war drei Jahre alt, als wir an einem schönen Sommertag auf der Wiese am Fluss saßen, Melanie, ihre Mutter und zwei Freundinnen, und ich. Melanies Mutter wollte in der üblichen pädagogischen Art ihrer Tochter vermitteln, wie gefährlich es sei, nah an der steilen Uferböschung zu spielen. Sie erklärte und warnte. Melanie reagierte typisch: sie sah vor sich hin, drehte sich weg und signalisierte deutlich „Lass mich in Ruhe! Ich komme zurecht.“ Ich notierte mir damals:
Ich schweige und beobachte. Es ist nicht meine Aufgabe, einem erzieherischen Erwachsenen die Erziehung auszutreiben. Und ich biete mich – wortlos, ohne Aktion – Melanie an, falls sie nach mir suchen sollte. Melanie beginnt, mit mir zu spielen. Die Böschungsfrage ist ungelöst. Kerstin vertraut mir jetzt ihre Tochter an und wendet sich ihren Freundinnen zu. Ich komme mit Melanie näher zur Böschung. In mir ist keine Angst und kein Anspruch, stellvertretend für dieses selbstverantwortliche Geschöpf des Universums die Entscheidungen »zu deinem Besten« treffen zu müssen. Ich traue ihr zu, die Böschungsfrage selbst richtig zu entscheiden. Und ich weiß auch, dass ich mich in einem Unglücksfall auf mich verlassen kann. Melanie und ich: Wir beide können uns frei von erzieherischem Nebel auf die Situation und aufeinander einlassen.
Und dann erlebe ich, wie sich ein junger Mensch von drei Jahren mit dem Fluss, den Strudeln, der Gefahr, dem Risiko, dem Steinwerfen, den Blumen, der Sonne, dem Wind beschäftigt. Wie sie lebt, lacht, ängstlich ist, mutig ist, stolz ist, sich erkundet und die Welt begreift. Wir sind in einer vertrauten, sehr nahen Beziehung, und es ist etwas von Achtung, Geheimnis und Andacht zwischen uns. Obwohl sie nichts direkt mit mir tut und ich ihr nur gelegentlich Grasbatzen locker mache zum Hineinwerfen, erleben wir dabei auch uns. Die anderen sind vergessen, und wir begegnen uns als gleichwertige und freie Menschen in einer tiefen emotionalen Dimension: So, wie sie sich vertraut, kann ich mir und ihr vertrauen. Ihr Selbstvertrauen, dem ich mich jenseits jeden erzieherischen Ballasts aufgeschlossen habe, erreicht mich ungehindert, fegt das Bedenken, dass sie zu Schaden kommen könnte, fort und bestätigt das tief in mir lebende Gefühl aus meiner eigenen Kindheit, dass jeder von uns ein König ist – ein Ebenbild Gottes. Ich spüre ihre Kraft und ihre Stärke – so, wie ich mir in ihrer Gegenwart selbst sicher bin.

P.S.
Aus der Suche nach dem neuen Bild vom Kind und einer Professionalität mit menschlichem Antlitz entstand der Film „Wundervolle Kinder – Bildungsort Lebensalltag“. Sie können die DVD unter wundervollekinder.de/contact beim Herausgeber SONNENAU Kinderbetreuung in Tagespflege Dresden e. V. zum Preis von 9,- EUR incl. Versand per Post bestellen. Mengenrabatt auf Anfrage.