Es wird oft
erwartet, daß amicative Menschen die Kinder auch tun lassen, was diese selbst
entscheiden. Das sei doch die Quintessenz aller amicativen Theorie! Doch es ist
anders.
»Setz die Mütze
auf« ‑
»Ich
will nicht!« Eine Mutter im Konflikt mit ihrer dreijährigen Tochter. Die Welt
wird interpretiert. Wer interpretiert richtig? Die amicative Antwort ist: jeder
interpretiert auf seine Weise, der eine hat soviel recht wie der andere. Die
Mutter sagt der Tochter ihre Sicht der Dinge, die Tochter sagt der Mutter ihre
Sicht der Dinge. Die Mutter sagt sie vielleicht mehrmals, das Kind antwortet
mehrmals. Dann kann es sein, daß sie übereinstimmen: »Ich setze die Mütze auf«
oder »Na gut, dann gehe ohne«.
Oder sie bleiben
bei ihren entgegengesetzten Beurteilungen. Dann wird sich in der Regel der
Erwachsene durchsetzen, und das Kind muß das tun, was er will. Dies ist auch in
amicativen Familien nicht anders.
Doch bei aller
Gegensätzlichkeit im Handlungsbereich: auf der psychischen Ebene findet kein Angriff
gegen die Innere Welt und Souveränität des Kindes statt. Das »Nein« des Kindes
wird als Ausdruck eines gleichwertigen Menschen mit Innerer Souveränität
verstanden, der einen anderen Weg gehen will ‑ den der
Erwachsene aus seinen Gründen heraus aber nicht zulassen kann. Es geht dabei
nur um das handlungsmäßige »Tu es« bzw. »Tu es nicht«, nicht aber um das
psychische »Sieh das ein ‑ ich habe recht«. Im amicativen Konflikt
gibt es keinen Angriff des Erwachsenen auf die Seele und die Identität des
Kindes und deswegen auch nicht eine
entsprechend vehemente Verteidigung dagegen. Ein amicativer Konflikt verläuft
in anderen Bahnen.
Auf der
psychischen Ebene stehen sich die amicative Position und die traditionelle
pädagogische Position gegenüber. Hier die Anerkennung der souveränen Inneren
Welt des Kindes, Beziehung und Austausch mit einem vollwertigen Menschen ‑ dort das
Feststellen des Nichtvorhandenseins einer souveränen Inneren Welt beim Kind,
Erziehung und Unterweisung eines zur Vollwertigkeit reifenden Menschen.
Amicative Erwachsene werden durch die Anerkennung der Souveränität des Kindes
nicht handlungsunfähig ‑ ihre Handlungen sind jedoch von anderer
psychischer Qualität.
Frei von
Bevormunden, Einsichtigmachen und Trotzbrechen wird für den amicativen Erwachsenen
anderes möglich: psychisches Hören - Empathie. In gleicher Weise kann das Kind
den Erwachsenen psychisch wahrnehmen. Denn da es nicht angegriffen wird, muß es
seine Energie nicht in der Verteidigung gegen den Erwachsenen aufreiben. Beide
können deswegen die jeweilige Dringlichkeit des anderen mitbekommen. Beide sind
offen zu merken, wie wichtig dem anderen sein Interesse wirklich, d.h. auf der
emotionalen und existentiellen Ebene, ist. Sie nehmen einander wahr, sie
erfahren auch im Konflikt, auch im Obsiegen und auch in der Niederlage, wer der
andere nach seinem Selbstverständnis ist. Empathie ist die Basis
erziehungsfreier Praxis.
Der Erwachsene
und das Kind informieren sich also über ihre Interessen und teilen sich
zugleich auf der emotionalen Ebene ihre Dringlichkeiten mit. Dies geht ein
paarmal hin und her, mal mit Worten und Erklärungen, mal ohne. Dann kann es
zwar vorkommen, daß sich einer durchsetzt ‑ mal der
Erwachsene, mal das Kind ‑, aber die Regel ist, daß der eine den
anderen machen läßt. Denn die Dringlichkeiten zweier Menschen sind selten von
gleichem Gewicht. »Dann mach du« ‑ dies liegt näher. Das geht aber nur,
wenn nicht existentielle Wichtigkeiten im Zentrum des Konflikts stehen:
Einsicht und Gehorsam, die der Erwachsene vom Kind einfordert, Würde und
Selbstachtung, die das Kind vom Erwachsenen respektiert wissen will.
In der
erziehungsfreien Praxis werden Konflikte nicht mit (bewundernswerter) Mühe
gelöst, sondern sie lösen sich wegen der Empathiestruktur amicativer
Kommunikation meistens von selbst auf. Das wird nicht irgendwie gemacht,
vorbereitet, erarbeitet oder ähnlich angestrebt. Der amicative Alltag mit
Kindern läßt sich nicht inszenieren. Er ist ein authentisches Geben und Nehmen
gleichwertiger Partner. Der beiläufige tägliche Friede mit Kindern wird als
Geschenk erlebt, das sich aus der amicativen Haltung ergibt.