Ich wurde auf
einem Vortrag nach meiner Position zum 11. September gefragt: »Ist dies ein
Tag, der auch aus amicativer Sicht die Welt verändert hat?« Will ich auf diese
Frage eingehen? Mitmischen im Meinungszirkus? Platt antworten, um irgend etwas
zu sagen, unverbindlich, ohne Risiko, um Ruhe zu haben? Doch selbstverständlich
gibt es auch zum 11. September unverkennbares amicatives Nachdenken:
Die
Gleichwertigkeit der Amication gilt uneingeschränkt, auch für jeden Terroristen
des 11. September. Ein Terrorist ist wie jeder andere ein Mensch mit Würde und
ein Ebenbild Gottes. Seine Gedankenwelt ist ebenso wertvoll oder wertlos wie
die anderer Menschen. Er ist wie jeder andere nicht an objektiven Maßstäben zu
messen, da es diese in der Amication nicht gibt. Er steht vor mir als Person,
und von Ich zu Ich sagen wir uns, was es zu sagen gibt.
Aus amicativer
Sicht gibt es gegenüber dem Terroristen als Person Respekt und Achtung. Die
Bewertung seiner Position und seiner Handlung bleibt dann einem jeden
überlassen, und wer ihm zustimmt, stimmt ihm zu, wer ihm heimlich zustimmt,
stimmt ihm heimlich zu, wer ihn ablehnt, lehnt ihn ab, wer ihn bekämpft, bekämpft
ihn. Das muss jeder selbst entscheiden, Amication macht hier keine Vorgabe und
nimmt niemanden in die Pflicht. Jeder kann der Terrorist sein, der er sein will
– so wie jeder der Friedensmensch sein kann, der er sein will.
Aber kollidiert
Amication nicht mit der Wertewelt derer, die andere missachten (»Wir werden auf
ihren Gräber tanzen«)? Zu den Grundlagen von Amication gehört die Achtung vor
dem Anderen, seinem Selbstbild. Also auch die Achtung vor jemandem, der andere
missachtet. Wenn jemand ein Missachter, ein Hasser, ein Terrorist, ein Killer
sein will – was ist daran mit objektiver Elle zu messen? Nichts. Aus der
Vielfalt der Möglichkeiten, aus der großen Wahl der Identitäten wählt ein jeder
aus, und keine Wahl ist besser oder schlechter als eine andere.
Wenn es in der
Amication also eine grundlegende Achtung vor jedem Menschen, auch jedem
Terroristen gibt – dann ist dies eine sehr andere Position als diejenige, die
dem Terroristen das Böse-Etikett aufklebt. Diese Basisposition der Amication ist
für die Lebenswirklichkeit aber nur der Beginn allen Geschehens. Sie ist eine
psychische Größe, die in der Realität des Handelns, Kommunizierens,
Miteinanders unabdingbar, auf jeden Fall, ohne Ausnahme, immer und stets
ergänzt wird um die persönliche Position und Bewertung, um das Resümee der
persönlichen Ethik und Moral: »Bei allem Respekt vor Dir – das aber ist meine
Meinung dazu.« Die Große Vielfalt entlässt nicht in die unendliche, im Nebel
verschwindende Beliebigkeit, sondern lädt ein und zwingt letztlich zur
persönlichen Wahl und Verantwortung und zum persönlichen Weg in all dieser
gleichwertigen Unendlichkeit. »Welchen Weg will ich gehen, wenn alle Wege
möglich sind, in Verantwortung vor mir?«
Ich bin ab diesem
Punkt des Stellungnehmens zum 11. September jetzt persönlich gefragt. Bis
hierhin ging es um Amication, ab jetzt geht es um Hubertus. Und ich – Ich – bin
verwurzelt in einer Welt, die dem Anderen im Unterschied zu den bekannt
gewordenen Auffassungen der Terroristen die Ausgestaltung, Expression,
Verwirklichung seines Selbst zugesteht, wie immer er möchte, solange er anderen
kein Leid zufügt. Zufügt wohlgemerkt, das heißt absichtlich, gewollt. Mein
Handeln, mit dem ich mich realisiere, wird eigene Reaktionen der anderen
hervorrufen, Freud und Leid. Wie bei Jesus und der Peitsche im Tempel. Das
lässt sich nicht vermeiden, und wenn mein Verhalten Leid hervorruft, das ich
nicht hervorrufen will, dann ist dies etwas grundlegend anderes als ein
Verhalten, das Leid und Tod sehr wohl hervorrufen will.
Und die Notwehr?
Wenn ich ein Leben (z.B. meines Kindes) dadurch rette, dass ich ein anderes
Leben (z.B. eines Mörders) vernichte? Wenn auch ich Leid und Tod zufügen will –
um Leben zu erhalten? Dann unterscheide ich mich im Töten nicht vom Terroristen
– aber sehr wohl in seiner psychischen Basisposition: Bei mir bleibt die
Achtung vor dem, den ich töte, erhalten, ich trauere um ihn und pflege sein
Grab. Im Terroristen gibt es diese Achtung nicht, er tanzt auf dem Grab.
Die Weltsicht der
Terroristen enthält die Unterdrückung der Freiheit des anderen. So wie dies in
vielen Gesellschaftsformen der Fall ist: in den Monarchien, Diktaturen,
Theokratien dieser Welt. Der Westen hat dies durch die Aufklärung und die
demokratische Idee schon ein gutes Stück überwunden. Hier bin ich zu Hause, und
dieser Wert der Freiheit des Einzelnen ist auch mein Wert. Die Terroristen des
11. September wählten aus der Großen Vielfalt den Wert der Unterdrückung des
Einzelnen und die Missachtung seiner Würde – ich wähle aus der Großen Vielfalt
den Wert der Freiheit des Einzelnen und die Achtung seiner Würde. Wir
unterscheiden uns. Und selbstverständlich verteidige ich meine Werte gegen
jeden, der sie angreift und auslöschen will. Mit welchem Mittel, das will dann
gut überlegt sein.
Ich bin hier, wo
ich lebe, nicht von den Terroristen des 11. September angegriffen worden. Wohl
aber von denen, die diese Menschen missachten und zu Nichtmenschen stempeln.
Diese Terroristen des 12. September habe ich um mich, in jeder Zeitung, jedem
Kommentar, jedem Gespräch, in jeder Frage zum Thema. Dieser ethische
Terrorismus schickt keine Flugzeuge in Türme, sondern Flugzeuge in mein Herz.
Und diesem Terrorismus halte ich stand. Nach dem Schreck und Schock der Attacke
(»Die Terroristen des 11. September sind keine Menschen«) hole ich Luft und
komme zur Besinnung. Ich besinne mich auf meine Werte und schwenke die Fahne
der Amication, mir zur Ehre: »Selbstverständlich sind die Terroristen des 11.
September Menschen mit Würde und ihnen kommt Respekt und Achtung zu. Wie auch
denen des 12. September. Und ebenso selbstverständlich ist für mich, dass es
völlig unakzeptabel ist, Menschen mit Flugzeugen umzubringen. Genauso
unakzeptabel, wie eben diesen Mördern die Menschenwürde abzusprechen.«