Kommunikation,
existentielle Begegnung: Hieraus entstehen Wahrheiten. Wahrheiten, die anders
sind als so genannte sachliche
Wahrheiten. Widersprüchlichkeit, Mehrdeutigkeit, Subjektivität leuchten als
Wahrheiten auf – Wahrheiten, die ohne den Wahrheitsanspruch der Moderne sind,
nämlich objektiv, absolut, eindeutig, wirklich wahr zu sein. Ich stelle Euch
zwei postmoderne Textstellen hierzu vor. John Holt ist Euch als Kinderrechtler
aus den USA bekannt. Zygmunt Baumann ist ein renommierter Autor zu postmodernen
Themen, er ist Professor im Ruhestand für Soziologie an der Universität Leeds
in Großbritannien.
John Holt in »Zum
Teufel mit der Kindheit«, 1978 (USA 1974) S.16:
Wie viele andere
Menschen auch pflegte ich zu glauben, dass der Mensch durch Argumente, durch
Diskussionen – durch das, was manche einen »Dialog« nennen – zur Wahrheit
gelangen würde. Dabei handelte es sich um eine Art Kampfgericht (trial by
combat): jeder setzte sein Argument sozusagen auf ein Pferd und ließ es in
vollem Galopp auf das Argument des anderen los. Wer den anderen vom Pferd
stoßen konnte, der hatte gewonnen, und er andere musste zugeben: »Du hast
gewonnen, also hast du recht.« Doch mit der Zeit und mit zunehmender Erfahrung
wurde mir klar, dass Menschen nicht dadurch verändert oder besiegt werden, dass
man sie dazu bringt, ihre Ideen als dumm, unlogisch oder zusammenhanglos zu
erkennen. Heute habe ich eine Vision – von der Welt, wie sie ist und wie sie
sein könnte – die ich jedem mitteile, der sie sich anschauen will. Ich vermag
diese Vision nicht in sein Gehirn einzupflanzen; jeder macht sich sein eigenes
Modell von der Wirklichkeit. Doch das Licht, das ich auf Erfahrung werfe, hilft
vielleicht einigen von ihnen, die Dinge etwas anders zu betrachten und sich
selber eine neue Vision aufzubauen.
Zygmunt Baumann
in »Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit«, 1995 (England 1991)
S.127 f.:
* (Anmerkung:
inhärent – innewohnend, anhaftend; polysem – mehrere Bedeutungen habend;
monosem – nur eine Bedeutung habend)
Worauf sich die
inhärent polyseme * und kontroverse Idee der Postmoderne am häufigsten bezieht
(sei es auch nur stillschweigend), ist zuerst und vor allem ein Akzeptieren der
unauslöschlichen Pluralität der Welt; eine Pluralität, die nicht eine
Zwischenstation auf dem Weg zur noch nicht erreichten Vollkommenheit ist
(Unvollkommenheiten gibt es viele und verschiedene; Vollkommenheit ist per
definitionem immer nur eine), eine Station, die früher oder später
zurückzubleiben hat – sondern eine konstitutive Qualität der Existenz. Ebenso
bedeutet Postmoderne eine entschlossene Emanzipation von dem charakteristisch
modernen Drang, die Ambivalenz zu überwinden und monoseme Klarheit der Selbigkeit
zu fördern. Ja, die Postmoderne dreht die Zeichen der Werte, die für die
Moderne zentral sind, um, wie Gleichförmigkeit und Universalismus. Und sobald
erst einmal wahrgenommen worden ist, dass die Vielfalt der Lebensformen
unreduzierbar ist und es unwahrscheinlich ist, dass sie konvergieren, werden
sie nicht nur widerstrebend akzeptiert, sondern in den Rang eines höchsten
positiven Wertes erhoben, der weder in eine Lebensform aufzulösen ist, welche
auf Universalität zielt, noch durch eine Form degradiert wird, die nach
universaler Herrschaft strebt.
Wo die Absicht zu
herrschen fehlt, beleidigt das Vorhandensein wechselseitig einander
ausschließender Maßstäbe weder den Wunsch nach logischer Kongruenz noch löst es
eine Heilungsaktion aus. Im Idealfall ist in der pluralen und pluralistischen
Welt der Postmoderne jede Lebensform prinzipiell erlaubt oder, besser gesagt,
es sind keinerlei allgemeine Prinzipien evident (oder unbestritten evident),
die irgendeine Lebensform unzulässig machen würden. Sobald die Differenz
aufhört, Druck auszuüben, und nicht als ein Problem konstruiert wird, das nach
Handeln und Lösung ruft, wird die friedliche Koexistenz von verschiedenen
Lebensformen in einem anderen Sinne als dem eines zeitweiligen Gleichgewichts
feindlicher Mächte möglich. Das Prinzip der Koexistenz könnte (einfach nur:
könnte) das Prinzip der Universalisierung ersetzen, während das Toleranzgebot
an die Stelle der Konversion und der Subordination treten könnte (nur könnte).
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war der Schlachtruf der Moderne. Freiheit,
Verschiedenheit, Toleranz ist die Waffenstillstandsformel der Postmoderne. Und
wenn Toleranz in Solidarität umgewandelt wird, kann sich Waffenstillstand sogar
in Frieden verwandeln.