»Die Würde des Kindes ist unantastbar«. Diesen
Satz gibt es nicht. Nicht im Grundgesetz (dort heißt es »Die Würde des Menschen
ist unantastbar«) und nicht im Alltag. Was heißt schon »Würde des Kindes«? Und
wenn es so etwas wie die Würde des jungen Menschen wirklich geben sollte, was
soll dann das mit dem »unantastbar« sein? Das ist doch ganz lebensfremd und
unrealistisch.
»Ich hab Dir doch
schon hundertmal gesagt!« Na ja, das geht da rein und da raus. Aber etwas
bleibt doch hängen, dieser Unterton nämlich. Diese Selbstverständlichkeit das
Hundertmalsagers, dass er das hundertmal sagen --- darf. Ja: darf. Darf er das?
So etwas sagen? So mit einem anderen Menschen umgehen? Will ich so etwas haben
in meinem Leben? In meinem kleinen Kinderleben? In meinem großen
Erwachsenenleben? Es ist völlig klar: Ich will das wirklich nicht! Was fällt
dem anderen ein, sich so über mich zu erheben? Sich so über mich zu empören?
Mich so blöd dastehen zu lassen? Es ist zum Kotzen. Die Würde ist dahin...
Wenn sie denn
dahin ist. Denn die Würde ist eine sehr geheimnisvolle Angelegenheit. Sie wohnt
in mir. Sie wohnt in jedem. Egal, wie alt er ist. Sie wohnt in jedem Kind. Sie
wohnt in Corbinian, wenn er zum hundertsten Mal nicht mit dem Stuhl vor die
Heizung kippeln soll. Sie wohnt in Kilian, wenn er zum hundertsten Mal nicht
diese Töne drauf haben soll. Sie wohnt einfach in den Menschen – und eigentlich
geht sie auch nicht weg. Sie wird nur gezerrt, geschlagen, gebeutelt,
missachtet.
Könnte der Würde
ja auch egal sein, wenn sie gehauen wird. »Wer bist Du denn? Was willst Du? Zum
hundertsten Mal? Versteh ich nicht. Was ist denn Dein Problem? Kannst Du
Kippeln nicht leiden? Ich schon. Macht doch Spaß. Kannst Du meine Supertöne
nicht leiden? Ich schon. Sie kommen so gut aus dem Bauch.« Die Würde kann auch
alles abschmettern, was da an Sauereien auf sie losgelassen wird. Besser:
Könnte.
Ja, wenn man denn
so stark ist. Wenn man denn so gut im Sattel sitzt. Dass die Lanze einen nicht
abwirft. Wenn. Wer ist aber so stark? Dass man die Attacken der anderen
abgleiten lässt? Und noch verstärkt: Wenn man den Angreifer in seiner Not sieht
und ihm noch die zweite Wange anbietet? Sicher ist so etwas denkbar, aber doch
nur theoretisch. Nicht im wirklichen Leben. Da ist man einfach angemacht von
diesen Wütereien, von diesem Hundertmal.
»Die Würde ist
unantastbar« kann man auch so lesen, dass, egal was kommt, alles von der Würde
abprallt. Die Würde hat eine bombastische Unantastbarkeitshornhaut, da kommt
keiner gegen an. So ist das aber nicht gemeint. Es ist so gemeint, dass die
Würde etwas Verletzbares und Verletzliches ist, etwas, das gut beschützt sein
will. Wie Kinder eigentlich, kleine zumal. Sind so kleine Hände. Da liegt eine
seltsame anrührende bis rührselige Vorstellung vor. Ich muss mich für Deine
Würde in die Bresche werfen. Weil Du so schwach bist und die anderen so stark
sind. Das schreiben wir gleich mal hoch, ganz hoch, ganz nach oben, ins
Grundgesetz. Damit wird die Würde sehr klein geschrieben: weil sie so
superschutzbedürftig ist.
Die Würde ist
stark. Sie ist Teil von uns. Sie ist Identität. Ich bin. Ich bin meine Würde.
Niemand kann sie mir nehmen. Jeder kann sie antasten, bittesehr, aber das macht
der Würde nichts. Lang nur zu – das verletzt mich nicht, das prallt an mir ab.
Diese Sicherheit spüre ich tief in mir drin. Wirklich. Ich, Hubertus, Schreiber
dieser Zeilen. Aber nur dort, wo sie gut versteckt ist, hinter den sieben
Bergen, in meinem innersten Land. Das Hundertmal erreicht diesen Kern meines
Ich nicht. Vorher, im Bergland davor, da wird
rumgeholzt. Und da zeige ich mich nicht mehr. Da renn ich weg, hinter
den letzten Berg. Mein Blick geht nach unten, mein Gesicht ist erstarrt, mein
Mund ist verschlossen. »Los, antworte!« der Andere spürt seine Ohmmacht. Er
will in den heiligen inneren Bereich. Doch nichts da! Aus und vorbei für Dich.
Ab hier wohne ich! Ab hier ist mein Land, meine Harmonie, mein Glück, meine
Seligkeit. Da kommst Du niemals hin.
Kinder, die sich
in diese geheimen Verstecke zurückziehen. Wir, die wir uns in unsere geheimen
Verstecke zurückziehen. Hundertmal kommt da nicht mehr ran. Die Verbindung ist
abgerissen. Hundertmal ist draußen vor. Hundertmal ist ein Erwachsener, ein
Feind. Er wütet. Er bedrängt mich. Er meckert. Er will meine Hände, meine Füße, meine Sprache, er will meine Gedanken.
Er will auch mein Herz. Und meine Seele. Er will mich. Er ist ein Allesfresser,
ein Vielfraß, ein Seelenhai. Er ist einfach ein Monster.
Wir sind nicht
immer Monster für die Kinder. Aber immer wieder. Oft genug. Wozu ist das nötig,
gut, wichtig? Wozu wird das gebraucht? Was fährt in uns, »hundertmal« zu sagen
und Herr und Frau Hundertmal zu sein? Na ja, so ist das eben. Das hat seinen
biografischen soziohistorischen psychoquarkigen Hintergrund, allemal. Wir sind
eben so, geworden, und fallen in diesen Hundertmalwahn, dreimal am Tag,
süchtig, nach dieser Droge, dieser Kinderfresslust, wild auf ihre Hände, ihre
Füße, ihre Sprache, ihre Gedanken, ihr Herz, ihre Seele.
Meine Güte! Aber
was denn sonst? Gibt es einen Alltag mit Kindern ohne Hundertmal? Habe ich noch
nicht erlebt. Ich bin selbst oft genug Hundertmal, und alle anderen, die ich
kenne auch, und alle anderen Menschen auf der Welt, die ich nicht kenne auch.
Abzüglich der Kinder: die das noch nicht sind. Gehört so etwas dann zum
Menschen? Zum erwachsenen Menschen? Dieses Hundertmal? Kann ich mir nicht
vorstellen, dass die Natur oder der liebe Gott das ursprünglich so eingerichtet
haben, dass das zum Überleben der Menschen wichtig ist, so eine
Herbabsetzungsorgie. Ist nur so gekommen. Vielleicht liegts am Klima nach der
Eiszeit, am Lifestyle seit 10.000 Jahren, seit Sesshaftigkeit statt Jagdkultur,
seit Zaun (für die gezähmten Haustiere) statt freiem Raum (für alle Lebewesen
auf gleicher Augenhöhe). Wer weiß, wo das herkommt. Aber es ist da.
Und ich mag das
nicht. Nicht besonders. Überhaupt nicht. Ich möchte das Zauberkraut gegen das
Hundertmal haben. Feenkraut – find ich gut! (Hotzenplotz). Und dann sehe ich
Corbinian mit seinen 4 Jahren kippeln und halte ihn ganz beiläufig an (nicht
fest). Zärtlichkeit im Alltag. Und höre mir Kilians Töne an und denke »nimm ihn
auf den Arm« und dann tu ich es, auch
wenn er schon 6 ist und schwer ist. Ich drehe seinen Kopf dabei so, dass mir
diese Superfrequenzen nicht voll vors Trommelfall donnern. Eine leichte
beiläufige Kopfwegdrehung. Ist schon gut. Er beruhigt sich. Der eine hört mit
den Tönen auf, der andere hört mit dem Kippeln auf. Das Leben geht weiter,
undramatisch, wenn wir kein Drama daraus machen, einfach so. Hundertmal ist
nicht gekommen.
Wo ist
Hundertmal? Nicht da. Ist es fort gegangen? Jetzt jedenfalls. Kommt es wieder?
Sicher. Aber bis dahin erst mal nicht. Seine Abwesenheit wird nicht bedauert.
Sie wird auch nicht gefeiert. Es ist endlich das Normale passiert:
Miteinanderumgehen ohne die Würde des anderen anzutasten.
Egal, was die
Kinder anstellen, machen, danebenhauen, ekelkotzen, giftspritzen, sonstwas: es
ist immer voll Sinn, voll ihres Sinnes, so, wie das gerade in ihnen ist. Immer
Ausdruck ihrer Würde. Wie kann man das nur so übersehen?! Fehlt da das Gefühl
für die eigene Würde? Für die Wucht und Dringlichkeit und Unhinterfragbarkeit
und Berechtigung und Unantastabarkeit der eigenen Würde, um das, genau das beim
andern zu sehen, beim Kind zu sehen und gelten zu lassen? Sicher. So wird es
schon sein. Wir sind würdetraumatisiert, würdegeschädigt, würdegeschändet, ein
Kinderleben lang Hundertmal. Ein Erwachsenenleben lang Hundertmal. Oh Mann, ist
schon schlimm, so eine Scheiße.
Aber: da gibt es
ja noch den Geist, den Verstand, das Reflektieren, das Meditieren, das
Nachsinnen: Könnte doch auch anders gespielt werden, die Sache mit der Würde.
Mit der Würde des Kindes. Mit meiner Würde. Man könnte doch auch die Finger
davon lassen. Wäre auch ein Weg. Erkannt – Gebannt. So schnell wird's nicht
gehen, aber es ist ja schon mal ein Fortschritt, zu erkennen: »Die Würde des
Kindes ist unantastbar.«
Wenn es mir
gelingt, in den Streitereien mit den Kindern ihre Würde nicht zu verlieren. Wenn
ich meine eigene Würde nicht angegriffen fühle durch ihre Aktionen und
Aktiönchen. Wenn ich mir meines Wertes sicher bin. Wenn ich mir ihres Wertes
sicher bin. Dann klappt das auch, das mit dem ohne Hundertmal.
Wie werde ich mir
meines Wertes und meiner Würde so sicher?
Das macht jeder auf seine Weise. Wenn er es denn macht. Wer nichts mehr
in sich spürt an eigener Würde, für den weiß ich nichts. Ehrlich und wirklich.
Wer aber etwas merkt, so ein Würde-Würzelchen oder gar einen großen Würde-Baum,
dem sage ich: las uns doch darauf setzen, las es uns hervorkramen, las es uns
auf die Lebensfahnen schreiben, aus dem Autofenster flattern: Ich bin voll
Würde! Jeder ist voll Würde.
Als Kapitän Hook
nach langem Kampf von Peter Pan besiegt ist, verliert er zum Schluss ihres
Gerangels seine – Haare. Er steht mit Glatze da. Er hatte eine Perücke
getragen! Dieser wilde Kerl hat eine Perücke! Lächerlichkeit kommt auf. Aber:
Sein Gesicht! Alle halten eine Sekunde den Atem an. Es wird intim, fast
superpeinlich. Und dann kommt sein erlösender Satz: »Gebt mir meine
Würde wieder.« Und Peter gibt ihm die Perücke, die Würde zurück. Und
Kapitän Hook, dieser Bösewicht mit Würde wie jeder Mensch, er setzt sie auf,
und alles ist wieder im Lot.
Geben wir den
Kindern ihre Perücke, ihr Gesicht, ihre Würde, sie dürfen es nicht verlieren –
das ist der Zuruf. Die Kunst. Der Zauber. Und dann geht so viel. Dann hören sie
zu. Dann hören sie auf zu kippeln und auf zu tönen. Dann tun sie ja, was man
von ihnen will, dann bricht der Friede aus. Das ist alles nicht verboten. Das
kann man in seinem Leben, in seinem Nachdenken und sogar in seinem Tun auch
dabei haben. Im Angebotskoffer. Und manchmal, wenn die Sonne scheint, dann
wirklich machen: »Hundertmal – Du bist heute nicht daran. Dafür ist das Wetter
zu gut. Geh jetzt.« Und dann geht
Hundertmal, und die Würde des Kindes ist unangetastet, sie strahlt und fängt
uns ein.