Vom freundlichen Umgang mir dem Sollen

Wir sollen viel. Ein gutes Leben führen, uns nicht so viel aufregen, Verständnis füreinander haben, mehr Gelassenheit ins Spiel bringen, ökomäßig drauf sein, die Kinder beziehen und nicht erziehen, ausländerfreundlich sein, die Seele baumeln lassen, wild und gefährlich leben, da sein und Zeit haben, an uns selbst denken und uns lieben, den ersten Atemzug selbst tun und auch noch in Würde sterben ...

Wir sollen viel. Das Viel hat sich verändert, das Sollen nicht. Was lässt sich tun? Soll denn etwas getan werden? Na ja, wenn das alles ein Missstand ist, all diese (neuen) Anforderungen, und es irgendwie unfroh macht. Man muss so viel Ungemach mit dem Sollen doch nicht mit sich herumschleppen. Sind wir zum Leiden da? Sollen wir uns freuen? Über uns, die Umstände, das Leben? Sollen? Schön wär's ja, das mit dem Freuen, aber wie bekommt man das hin, ohne dass da schon wieder ein Sollen lauert: Man soll sich seines Lebens erfreuen! Jawohl, man soll.

Der Weg zum Frieden kann nur der Friede selber sein (M. L. King). Was heißt: vom Sollen kommt man nur weg ohne Sollen. Es heißt nicht: der Weg zum Frieden soll nur der Friede selber sein. Es heißt »kann«. Aber wie gelingt es, dieses »kann«?

Wenn man sich vom Sollen verabschiedet (oder von irgend etwas anderem, was man nicht mehr will), dann lässt man es in Ruhe. Stop, Falle: das heißt doch im Klartext: man sollte es in Ruhe lassen, sonst gelingt es nicht! Wir sind viel zu eingefangen in das Denken im Sollen, als dass das so einfach geht. »Ich liebe mich so wie ich bin« – das ist doch auch ein Ziel, eine neue Norm, ein Sollen, ein neues Sollen ...

Ich erkenne das Sollen-Denken überall, offen und verborgen und besonders verborgen und superverborgen (wenn man es nämlich überwinden will). Ich finde das Sollen auch nicht schön, ich hätte es lieber nicht dabei, in meinem Leben, und überhaupt. Aber: es ist da. Wie man es auch dreht und wendet: es ist da. Und ich denke: es bleibt auch da. Es ist eine der Tatsachen des Lebens, so wie es heute stattfindet (vielleicht ist es in 1000 Jahren ja anders). Das ist für mich die zweite Überlegung: das Sollen wird nicht gehen. (Die erste Überlegung ist: das Sollen gefällt mir nicht, es soll gehen.)

Und jetzt, nach so viel Realismus? Ein Realismus, den aufzubringen ich schon für eine gute Leistung halte: Wer von den »Ich-will-kein-Sollen-mehr«-Leuten sieht schon, dass wir in einem real existierenden Sollenland leben? Also: was jetzt? Dann soll es eben sein, das Sollen? Soll es so sein? »Ich soll mich lieben so wie ich bin«? »Ich soll ein gutes Leben führen? Mich nicht so viel aufregen? Verständnis haben?« usw., siehe oben?

Ich habe etwas gefunden, das mich zufrieden zurücklässt bei der ganzen Problematik, beim Sollen ohne Sollen, beim Frieden, wo auch der Weg dahin schon Friede sein soll und bei den ganzen anderen paradoxen Unwirklichkeiten, wozu auch unsere Geschichte mit dem »Nicht erziehen gelingt nur durch Nichterziehen« gehört. Ich komme mit einem freundlichen und leicht ironischen: »Ach ja? Welche Mühe! Meine Güte! Ja, wenn du meinst ...« Ich komme mit einem Augenzwinkern, trinke einen Schluck Entdramatisieren und will es eine große Nummer kleiner angehen. Und ich sage: »Schön wär's.« Schön wär's, mit dem Frieden, mit dem Ohne-Sollen, mit dem Nicht-Erziehen. Wenn es denn gelänge. Würd' ich mich drüber freuen. Hätt' ich nichts gegen. Klar, ich bin dabei, wenn es so kommt. Mir zur Ehre.

Könnt ich mich drüber freuen, wenn ich keinen töte – statt »Du sollst nicht töten«. Könnt ich mich drüber freuen, nicht zu lügen – statt »Man darf nicht lügen«. Könnt ich mich drüber freuen, mich zu lieben – statt mir das heimlich zur Norm zu machen. Könnt ich mich drüber freuen, die Kinder nicht zu missionieren – statt dies als Fahne vor mir herzutragen. Wenn es denn gelänge, ein bisschen, manchmal, Dienstag Nachmittag bei Sonnenschein, wäre schön. In Respekt und Demut vor den Mächten der Wirklichkeit, die uns umgeben: Dem allgegenwärtigen Sollen unserer Zeitläufe. Wenn es denn gelänge, so eine kleine Insel ohne Sollen. Ohne das Sollen zu ärgern, es ihm abzutrotzen. Einfach so, mit einem freundlichen Lächeln: Ja, ist doch nicht verboten, Herr Sollizist, kann man doch machen, ich meine hier, jetzt, am Dienstag, wo die Sonne scheint? Natürlich, das Sollen stelle ich nicht in Frage als Wirkmächtigkeit, als Realität. Rein theoretisch schon, ich verrate ja auch meine Ziele nicht. Friede ist schon etwas Großartiges. Oder Wahrheit. Oder Unterstützen statt Erziehen. Oder Selbstliebe. Aber, mal so ganz privat, wo es nicht an die große Psychoglocke gehängt wird, wo es keiner so richtig merkt: so ein bisschen, so ein klein wenig, das reicht doch völlig aus, so am Anfang, in diesem Leben ...

Heile Welt ist ein zerbrechliches Gebilde, fein gesponnen, nur mit Zärtlichkeit der Wirklichkeit gegenüber, so dass die sich nicht aufregt und zurückschlägt, dieses Imperium der Macht. Und mehr davon? Vielleicht ein ganzes Leben ohne Sollen? Warum nicht? Ist doch nicht verboten, freundlich zu sein, auch zum Sollen. Soll doch das Sollen so oft kommen, wie es meint, kommen zu sollen. Und ich freue mich einfach, wenn es denn gelingt, wenn es mir passiert, wenn es mir geschenkt wird, das Fernbleiben des Sollens.

Also: Sollen findet statt. Es lässt sich nicht in uns selbst zum Verschwinden bringen. Es findet sogar dort statt, wo wir es ausdrücklich nicht haben wollen, in der Amication, wo doch ein jeder Herr seiner selbst ist, keiner Norm wirklich unterworfen. »Ich soll gar nichts!« Ja ja, das ist schon recht so. Aber es gilt eben zu verstehen, dass es nicht bedeutet, dass ich »Ich soll gar nichts« soll. Es wird in der Amication keine neue Sollennorm errichtet, sondern es wird ein Einladung ausgesprochen, eine Freude angeboten, dem Leben ein Hosianna gesungen.

Amication ist ein »Kannst Du machen«. Jeder kann sich lieben, da spricht nichts gegen. Die alte Weltsicht hat tausend Dinge, die dagegen sprechen. Doch hier wird das anders gesehen. Amication ist die Information und Gewissheit: »Da spricht nichts gegen, kannst du machen«. Und Amication ist dann noch ein bisschen mehr: »Mach doch – Komm mit – Du bist willkommen«.