Vom Herrschaftsanspruch und dem Wissen, was für andere gut ist

Die Herrschaft beenden ...


Es ist für Erwachsene selbstverständlich, dass sie den Kindern sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. »Iss Deinen Teller leer!« – »Stell Dein Rad in den Keller!« – »Setz die Mütze auf!« – »Spiel nicht am Radio rum!« – »Komm um acht nach Hause!« – »Mach Hausaufgaben!« Alle Kinder müssen letztlich tun, was Erwachsene ihnen sagen.

Doch die Missachtung des anderen, der niemals wirklich ein Befehlsempfänger ist – und das gilt selbstverständlich auch für Kinder – liegt nicht so sehr in den konkreten Anordnungen. Sie liegt im Grundsätzlichen: Dass Erwachsene sich überhaupt herausnehmen, etwas anzuordnen oder zu verbieten.

Wir haben nun als Mutter, Vater, Lehrer oder Erzieher die Möglichkeit, darauf zu verzichten, etwas durchzusetzen. Wir haben das Recht dazu. Wer würde es uns streitig machen? Wenn wir den Kindern gegenüber auf das Durchsetzen verzichten wollen – wir können es, es fällt in unsere Zuständigkeit. Eventuell werden wir uns dafür Kritik einhandeln: »Du lässt aber auch alles durchgehen.« Aber niemand stellt in Frage, dass wir in konkreten Fällen auf die Herrschaft über Kinder verzichten können.

Doch dass wir überhaupt verzichten können, bei Kindern etwas durchzusetzen, bedeutet auch, dass Kinder von unserer »Großzügigkeit« abhängig sind. Kinder haben nicht den gleichen Status wie wir. Sie können nicht ins Spiel bringen, dass niemand das Recht hat, ihnen gegenüber etwas durchzusetzen.

Aber nur dies, meine ich, ist richtig. Grundsätzlich haben Erwachsene kein Recht, Kindern gegenüber etwas durchzusetzen. Es gibt keine wirkliche Berechtigung, über einen anderen Menschen Herrschaft auszuüben, niemandem gegenüber, auch Kindern gegenüber nicht.

Ich jedenfalls habe für mich erkannt, dass ich keinen Herrschaftsanspruch habe, wenn ich mit Kindern zusammen bin.
Das Ablegen dieses Herrschaftsanspruchs kommt nicht nur aus der Überlegung, dass Kinder wie alle Menschen eine unantastbare Würde besitzen, dass sie souveräne Menschen sind wie jeder andere auch. Die Aufgabe des Herrschaftsanspruchs kommt neben solchen intellektuellen Motiven vor allem aus meinem Gefühl: Ich will einfach nicht mehr jemand sein, der sich das Recht herausnimmt, ein Herrscher über Kinder zu sein. Dies bereitet mir unangenehme Gefühle, Widerwillen, Abscheu. Ich finde das nicht nur nicht gerechtfertigt, sondern auch abstoßend. Genau so, wie ich Widerwillen habe, wenn ich etwa für Menschen mit einer anderen Hautfarbe zum Herrscher werden sollte – wie es aber vor noch nicht allzu langer Zeit für einen Weißen selbstverständlich war. Ich habe nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit meinem Herzen die Position der Gleichwertigkeit aller Menschen – auch der Kinder – eingenommen.
Im Erwachsenenalltag sind wir es ja auch sehr wohl gewohnt, dass wir kein Recht haben, andere Mensch zu beherrschen. Wir haben keinen Herrschaftsanspruch an die anderen. Wir gehen mit ihnen auf einer gleichen Basis um, wir bitten, und gelegentlich üben wir auch Druck aus. Das Ausüben von Druck auf andere ist dabei von der aktuellen Situation abhängig. Doch das Gefühl, dass der andere sich beugen müsse – also einen Herrschaftsanspruch – haben wir nicht. Vielleicht fügt sich der andere, dann war der Druck erfolgreich. Aber er hätte es nicht tun müssen, es besteht für den anderen keine Verpflichtung hierzu – und für uns kein Recht, dies zu erwarten.
Nur Kindern gegenüber ist das alles ganz anders. Dort gibt es eine Grundgröße, ein Selbstverständnis, ein Gefühl, ja ein Rechtsgefühl (ein Gefühl, dass man im Recht ist und das sich auch längst in juristischen Regeln ausgedrückt hat): Erwachsene können Kindern sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Erwachsene sind dazu berechtigt. Erwachsene haben den Anspruch, dass Kinder folgen. Im Unterschied zum Verhalten der Erwachsenen untereinander gehört im Umgang mit Kindern der Herrschaftsanspruch dazu.
Den Herrschaftsanspruch anderen Menschen gegenüber gab es auch unter Erwachsenen. Und die Menschen konnten sich davon befreien. Von der Folter, der Leibeigenschaft, der Sklaverei, der Frauenunterdrückung, dem Rassismus, dem Kolonialismus, dem Kommunismus. Das Ablegen des Anspruchs, über andere zu herrschen, hat eine lange und gute Tradition in der Geschichte der Menschheit.
Erwachsene können heute erkennen, dass sie ihre Kinder in der destruktiven Tradition des Herrschaftsanspruchs großziehen. In der Tradition, in der sie selbst, ihre Eltern und die Eltern ihrer Eltern groß geworden sind: Kinder sind der Herrschaft Erwachsener unterstellt. Doch man kann noch einmal nachdenken und noch einmal hinsehen. Man kann – mit einer neuen Perspektive – bemerken, dass es wirklichkeitsfremd und unwürdig ist, Kindern die Fähigkeit zur Selbstverantwortung abzusprechen und sich für sie verantwortlich zu fühlen. Es gibt heute ein neues Gefühl für die Würde des Kindes – dem können Erwachsene nachspüren und in der Tradition der Menschenrechte gleichwertige Beziehungen mit Kindern beginnen.
 
... und wissen, was gut ist

Ich mache mir durchaus Gedanken darüber, was für andere gut ist. Mir ist dabei aber stets klar, dass dies einzig meine eigenen Überlegungen sind und dass sie nur in meinen Zuständigkeitsbereich fallen. Dass sie nicht über den Auffassungen des anderen stehen und dass sie nicht irgendwie »objektiv« richtig sind. Wenn ich mir überlege, was für einen anderen gut ist, dann ist dies meine Überlegung und sie hat keinen Anspruch, wirklich das Maßgebende für den anderen zu sein, oder gar, dass dieser einsehen müsse, dass ich recht habe.

»Auf der Mauer balancier lieber nicht, die ist zu rutschig vom Regen.« – »Lass die kaputte Flasche liegen, da schneidest Du Dich nur.« – »Bloß kein Eis mehr, Du verdirbst Dir den Magen.« – »Nicht so wild, das Rad geht kaputt und Du tust Dir weh.« – »Wenn Du weiterkletterst und runterfällst, brichst Du Dir noch etwas.«

Ich teile mit, was meiner Meinung nach für den anderen gut ist. Und ich habe auch kein Problem damit, dies dann als »Ich weiß, was für Dich gut ist« zu bezeichnen. Oder genauer: »Ich weiß, was für Dich gut sein könnte«. Aber es kommt nicht auf die Wahl der Worte an, sondern auf die innere Haltung. Wenn jemand sagt »Ich weiß, was für Dich gut ist« und dabei die innere Haltung hat »Und richte Dich danach, tu, was ich sage, denn ich weiß es schließlich besser als Du«, dann schwingt da etwas Herabsetzendes mit, und dies lehne ich ab.

Mein Gefühl, meine Einsicht, meine Erfahrung zu dem, was für Kinder gut ist – sein könnte! – verberge ich nicht. Diese Dinge sind schließlich in mir. Ich gebe dies an die Kinder weiter, so wie ich auch meinen erwachsenen Freunden Rat gebe und ihnen Vorschläge mache. Im Unterschied zur erzieherischen Haltung lasse ich es aber beim Informieren und bestehe nicht darauf, dass ich recht habe, und dass die Kinder meine Auffassung teilen und mir innerlich zustimmen sollen.

Ob sich ein Kind im Handeln nach dem richten wird, was ich sage, hängt von vielen Faktoren ab. Sicher folgen die Kinder oft meinen Vorgaben, und ebenso sicher ist, dass sie dies oft nicht tun. Aus den vielfältigsten Gründen heraus kann ich ihr Nein häufig akzeptieren. Aber es kann genauso gut vorkommen, dass ich eine Ablehnung meines »Ich weiß, was für Dich gut ist« nicht vertragen kann und dann durchsetze, dass gemacht wird, was ich will. Dann bin ich zu ungeduldig, zu ängstlich, zu verärgert, zu überzeugt, zu informiert oder sonst irgendwie »klüger«.

Ich übe dann Herrschaft aus, damit geschieht, was ich will. Das ist klar, und das kann ich dann gerade nicht vermeiden, obwohl ich es ja eigentlich nicht will. Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen meinem »Tu, was ich als gut für Dich ansehe« und dem erzieherischen »Tu, was ich als gut für Dich ansehe.« Wenn ich Herrschaft ausübe und mich durchsetze, schwingt nicht der Anspruch mit, dass das Kind sich auch meiner Bewertung unterwerfen soll. Ich beschränke mich auf das Ausüben von Herrschaft, auf das Durchsetzen, und lasse es in Ruhe damit, ob es das nun einsehen wird oder nicht. Bei aller Herrschaft, die immer wieder von mir ausgeht – es ist kein erzieherischer Anspruch dabei, kein Angriff auf das Selbstwertgefühl und die Identität des Kindes. Ich unterwerfe nicht auch noch seine Gesinnung, wenn ich es schon zu einem bestimmten Verhalten zwingen sollte. Und die Kinder können das, wozu ich sie zwinge, für völlig unmöglich halten. Das fordert mich nicht heraus und macht mich nicht aggressiv. Sie können ihre Meinung über mich zurückhalten oder offen aussprechen. Und oft ist es so, dass ihr freimütiger Protest mein Herrschen unterbricht und beendet.

Als Arnd einmal bei mir übernachten wollte, sagte ich, es wäre sicher gut für ihn, zu Hause anzurufen und Bescheid zu sagen. Sonst würde er morgen Schwierigkeiten bekommen. Seine Eltern müssten wissen, wo er ist. »Ach, das ist doch nicht so wichtig.« »Du kriegst aber bestimmt riesigen Ärger.« »Macht nichts.« »Wenn ich für Dich anrufe, sieht es blöd aus.« »Ist doch nicht mein Problem.« Er wollte nicht tun, was für ihn das Beste war! Und ich begann zu herrschen: »Dann kannst Du nicht hier bleiben.« »Na gut, wenn es sein muss. Aber ich finde es total überflüssig. Du stellst Dich ganz schön an.« Er tat dann, was ich wollte, aber er behielt seine eigene Bewertung. Da ich nicht den Anspruch hatte, wirklich recht zu haben und dass er dies einsehen müsse, griff ich ihn in seinem Selbstwertgefühl nicht an. Und nur deswegen blieb er überhaupt noch.

Wissen Kinder, was für sie gut ist? Sie wissen es entsprechend ihrem Erfahrungs- und Bewertungshorizont, wie das bei jedem Menschen der Fall ist. Beispiel Kind: Es will einen Weihnachtsbaum anzünden, um sich an der erhofften Wirkung (Feuerwerk) zu erfreuen. Und hat Vorsorge für den Notfall getroffen (Wassereimer). Beispiel Erwachsener: Er will ein Atomkraftwerk bauen, um sich an der erhofften Wirkung (Energiegewinn) zu erfreuen. Und hat Vorsorge für den Notfall getroffen (Katastrophenplan). Aus ihrer Sicht wissen sie, was für sie gut ist. Ich bin da oft ganz anderer Meinung, aus meiner Erfahrung und Bewertung heraus. Ihr subjektives Wissen ist meinem subjektiven Wissen jedoch stets gleichrangig – denn objektives Wissen existiert überhaupt nicht.

Dem zuzustimmen – dass es keine Objektivität der Erkenntnis gibt – ist natürlich nicht jedermanns Sache. Es ist jedoch meine Überzeugung, sie gründet in dem postmodernen Paradigma der Gleichwertigkeit. Und wenn ich auch allemal meinem Wissen verpflichtet bin und dies notfalls durchsetze – so steht es mithin nicht über dem Wissen eines Kindes und verdrängt nicht meinen Respekt davor, dass jedes Kind wie jeder Mensch sehr wohl weiß, was für es gut ist. Im übrigen ist das Wissen der Kinder ist nicht von der Art, wie wir Erwachsene etwas wissen. Es ist ein Gespür für das Angemessene, eine emotionale Sicherheit, die auf Selbstvertrauen und Ich-Sicherheit beruht. Dieses Wissen der Kinder ist ein Wissen, wie es ursprünglich aus uns kommt, es ist ein Wissen von innen.


Kinder
und Morgenröte –
machtvoller Aufbruch,
voller Leben, das längst
begonnen hat und stets
und ganz sich selbst
gehört.

Wir, einst
früher Tag gewesen,
können neu verstehen lernen,
was Kinder brauchen und
welche Aufgabe
uns das Leben
zugewiesen
hat.