Über das eigene Schicksal selbst zu bestimmen – dies ist ein uraltes
Menschenrecht. Es gilt für den einzelnen und es gilt für die
Gesellschaft. Das politische Selbstbestimmungsrecht einer Gemeinschaft
bis hin zum Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde in der Geschichte
immer wieder gefordert, realisiert, missachtet, zurückerobert. Die
Menschheit hat von der Antike bis heute ein wechselvolles Hin und Her
von Selbstbestimmung und Unterdrückung erlebt.
Demokratie
im alten Griechenland. Republik im Römischen Reich. Am Ende des
Mittelalters reichsfreie Städte und Republiken mit Bürgerrechten. 1265
das Parlament in England. 1619 die General Assembly von Virginia. 1787
die Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika. 1791 das
Zensuswahlrecht für Bürger in der Französischen Revolution. 1848
erstmals das allgemeine Wahlrecht für Männer in der Pariser Revolution.
1887 erstmals das allgemeine Wahlrecht für Frauen im amerikanischen
Staat Wyoming. Nach dem Ende des 1. Weltkrieges Demokratien in Europa
mit dem allgemeinen Wahlrecht für Männer und Frauen. 1949 und 1990
erneut Demokratie in Deutschland. – Dies ist die positive Tradition.
Dagegen
stehen unzählige Monarchien, Aristokratien, Oligarchien, Theokratien,
Despotien, Tyranneien und Diktaturen. Auf deutschem Boden wurde die
letzte gerade erst beendet, die schrecklichste vor einem halben
Jahrhundert.
Das politische Selbstbestimmungsrecht war
immer ein Mittel, um die eigenen Vorstellungen von der Gestaltung der
Verhältnisse ins Spiel zu bringen. Dabei kämpften die jeweiligen
Interessengruppen für sich. Die Adeligen stritten mit dem König um ihre
Rechte. In der Französischen Revolution ging es um das politische Recht
privilegierter Bürger. In England wurde 1832 der Kreis der
Wahlberechtigten auch auf die nicht ganz so Reichen erweitert. Die
Arbeiterschaft der Pariser Revolution von 1848 trat erstmals für das
Wahlrecht für jeden Mann ein. Doch bei allen unterschiedlichen
Interessen – die Idee der politischen Selbstbestimmung aller setzte sich
mehr und mehr durch. Als am Ende des 1. Weltkriegs die alten
Herrschaftsstrukturen in Europa zusammenbrechen, wird in den neuen
Verfassungen der Staaten das Wahlrecht für jeden Bürger festgeschrieben.
Und, gänzlich neu, nach und nach auch für jede Bürgerin. So gibt es das
Wahlrecht für Frauen in Deutschland 1918, in Österreich und den
Niederlanden 1919, in den USA 1920, in Großbritannien 1928, in der
Türkei 1934, in Frankreich 1946, in Belgien 1948, in Griechenland 1952
und in der Schweiz 1971 bzw. im Kanton Appenzell Innerrhoden endlich
1990.
Frauen und Politik – bezogen auf alle Frauen,
nicht auf einzelne Regentinnen: Das passte nicht zusammen. Erst die
Frauenbewegung, die vor 200 Jahren begann, brachte mit Unterstützung der
Arbeiterbewegung den Gedanken der politischen Selbstbestimmung von
Frauen zur Geltung und machte die Beteiligung aller Frauen an der
politischen Macht in den modernen Demokratien möglich.
»Neger«
und Selbstbestimmung – auch das war unvorstellbar. Erst durch ein neues
Denken konnten die Weißen die Voll- und Gleichwertigkeit der Menschen
schwarzer Hautfarbe erkennen. Nach der hieraus folgenden Abschaffung der
Sklaverei in den USA im Jahr 1875 erhielten auch sie politische Rechte.
Doch diese Rechte wurden erst 1960 mit der Bürgerrechtsbewegung um
Martin Luther King so gestützt, dass den schwarzen Bürgern der USA
daraus auch politische Macht und Selbstbestimmung erwachsen konnte.
Die
Idee der Selbstbestimmung erhielt nach dem 2. Weltkrieg einen weiteren
Aufschwung, als das Ende des Kolonialismus begann. Das bedeutet längst
nicht überall Demokratie, aber doch den berechtigten Kampf darum, und
unsere Sympathien und unsere Solidarität gelten diesen Völkern der Welt.
Wer
in der Bundesrepublik Deutschland groß wurde, kennt nichts anderes als
das Selbstbestimmungsrecht des Volkes, realisiert in den Kommunal-,
Landtags- und Bundestagswahlen. Die vergangenen Zeitalter sind keine
Realität für diese Menschen, vielmehr sind Demokratie, allgemeines
Wahlrecht und politische Selbstbestimmung für sie
Selbstverständlichkeiten. Dennoch gilt, dass diese Grundrechte eben
keine Selbstverständlichkeit sind, wenn man in die Geschichte sieht.