Ungute Gefühle, die durch die Forderung nach dem Wahlrecht für Kinder
ausgelöst werden, lassen sich kaum argumentativ ausräumen. Es ist
sinnvoller, sie als emotionale Realität anzuerkennen. Es kommt auch
nicht darauf an, Einwände und Bedenken Kleinzureden und
wegzudiskutieren, sondern sie aus der eigenen Position heraus zu
beantworten. Welche Überlegungen stützen das Wahlrecht für Kinder? 10
Beispiele:
1. Kinder werden auf neue Weise von den
Erwachsenen ernst genommen. Politische Entscheidungen werden immer auch
mit Blick auf die Wähler getroffen. Wie reagieren die Wähler, die unter
18 Jahre alt sind? Diese Frage ist gänzlich neu, und erst sie führt
dazu, Kinder tatsächlich ernst zu nehmen und bei den politischen
Entscheidungen überhaupt zu berücksichtigen. Nicht aus Großzügigkeit,
sondern aus Notwendigkeit. Die Kinder haben jetzt Macht –
gesellschaftliche, politische Macht. Allein ihre Stimmzettel verleihen
ihnen dieses Gewicht. Es ist durch nichts zu ersetzen. Großzügigkeit und
Freundlichkeit können jederzeit widerrufen werden. Gegen die Macht, die
aus den Stimmzetteln kommt, gibt es jedoch kein Mittel.
2. Es
gibt einen psychologischen Durchbruch für die Kinder. Wenn Kinder
politisch gleichwertig sind und einige Male an Wahlen teilgenommen
haben, wird man ihnen mit einer anderen Achtung begegnen. Im
Einkaufszentrum, im Bus, im Schwimmbad erlebt man dann nicht unmündige
Kinder, sondern Wahlbürger. Wahlbürger Kind. Von der psychologischen
Aufwertung für die Kinder selbst ganz abgesehen. »Ich bin nicht
unwichtig – ich bin wichtig. Ich entscheide mit. Meine Stimme zählt.«
3.
Kinder verstehen viel von Politik. Zunächst: Es ist nicht notwendig,
etwas von Politik zu verstehen, wenn es um das Selbstbestimmungsrecht
und das Wahlrecht geht. Die Bürger entrissen dem König die Macht nicht
deswegen, weil sie nachweisen konnten, dass sie mehr von Politik
verstehen als er, sondern weil sie über ihr politisches Schicksal selbst
bestimmen wollten. Die Legitimation kommt nicht aus dem besseren
Verständnis von Politik oder aus irgendeiner Unterweisung in
gesellschaftliche Zusammenhänge, sondern aus der demokratischen Idee:
Dass die Macht nicht für einen oder für wenige reserviert ist, sondern
dass alle Anteil an der Macht haben – alle ohne jegliche Einschränkung.
Die Forderung, Kinder müssten etwas von Politik verstehen, ehe sie
wählen können, und 18 Jahre oder vielleicht 16 Jahre wäre da die
äußerste Grenze, ist eine zutiefst undemokratische Position. Diese
Forderung trägt diktatorische Züge, das Verlangen nach Herrschaft und
Unterordnung ist offensichtlich. Das »Davon verstehst du nichts« ist ein
Abwehrargument, um die Macht nicht zu teilen.
Kinder müssen
also nichts von Politik verstehen, um Anteil an der politischen Macht zu
haben. Dennoch aber verstehen sie viel von Politik: Humanität,
Toleranz, Kreativität, Sensibilität, Fairness u. a. sind wichtige
konstruktive Eigenschaften für die Politik. Von diesen
gesellschaftlichen Basisfaktoren verstehen Kinder eine Menge, und es ist
so, dass Erwachsene über dieses politische Wissen viel von ihnen lernen
können. Und von den tagespolitischen Fragen versteht der eine mehr, der
andere weniger – so, wie das bei den Erwachsenen auch ist.
4.
Versuche, Kinder zu verführen, laufen ins Leere. Denn die Konkurrenz
schläft nicht. Sie deckt solche Versuche auf, und dann revanchieren sich
die Kinder mit Wahl der Konkurrenz. Welche Chance hat denn ein
politischer Verführer in einer Zeit, die demokratisch geprägt ist und in
der destruktive und faschistische Tendenzen enttarnt werden? Die
Inhumanität und der Totalitarismus politischer Verführer sind leicht zu
durchschauen angesichts realer Machtbeteiligung durch demokratische
Wahlen. Demokratie – erlebte, erfahrene Demokratie – ist die beste Waffe
gegen jede Diktatur und jeden Verführungsversuch.
Wenn
Kinder aber in einer Diktatur leben – dann nämlich, wenn sie das
Wahlrecht nicht haben – , kommt es nur auf den Verführer mit den größten
Versprechungen an. Die Sorge vor der Verführbarkeit der Kinder spiegelt
die Ängste der Erwachsenen, die in der eigenen Kindheit einer
ausweglosen Diktatur ausgesetzt waren: Sie mussten den damaligen
Erwachsenen folgen, ohne Recht. Sie lernten folgsam zu sein und allen
Sprüchen zu glauben. Die Kinder des demokratischen Zeitalters jedoch
kennen ihre Macht. Sie können sich ihre Sensibilität für Wahrhaftigkeit
und Menschlichkeit bewahren, denn sie bestimmen selbst über ihr
Schicksal. Kinder, für die Demokratie Realität und ein gewachsener Wert
ist, werden sich mit Abscheu von diktatorischen Zumutungen und
politischen Verführungen abwenden.
5. Kinder sind sensibler als
Erwachsene für Fairness und Wahrheit. Die Versuche, die Wähler zu
hintergehen, zahlen sich bei den Kinderstimmen nicht aus. Politische
Tugenden sind in Bezug auf diese Wählergruppe viel effektiver, und
Politiker werden insgesamt in eine positive Richtung diszipliniert, wenn
Kinder über Wahlstimmen verfügen. Sie quittieren unerbittlicher als
Erwachsene Unfairness, Lüge und Gemeinheit mit Abwahl.
6. Die
Wahlreden werden verständlich. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland
15 Millionen Menschen unter 18 Jahren. Selbst wenn nur 20% zur Wahl
gehen sollten, sind das noch 3 Millionen Stimmen. Daran kommt kein
Politiker vorbei. Er muss so reden, dass er auch von diesen Wählern gut
verstanden wird. Es gibt kein Problem aus Politik und Gesellschaft, das
man nicht auch Kindern verständlich machen kann. Die Ausrede von der
Kompliziertheit der Sachverhalte überzeugt nicht länger, die Konkurrenz
hat nämlich den Politiker, der die Dinge auch den Kindern erklären kann.
Das gilt nicht nur für Wahlreden, sondern allgemein für die
Kommunikation zwischen Gewählten und Wählern, und das tut der gesamten
politischen Kultur gut.
7. Die Wahlprogramme werden zugunsten der
Kinder umgeschrieben. Alles, was dem Interesse der Kinder dient und
einen Stimmengewinn durch die Kinder verspricht, wird nun ernsthaft
thematisiert und diskutiert und in die Programme der Parteien
aufgenommen. Zum Beispiel Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in
Ortschaften, giftfreies Spielzeug, körpergerechte Schulmöbel,
arbeitsfreie Wochenenden der Eltern, Umgestaltung des Schulwesens,
funktionierender Lärmschutz, kinderfreundlicher Haus- und Wohnungsbau
bis hin zu Treppengeländern für Kinder, kindgerechte Gestaltung
öffentlicher Räume, phantasievolle Spielplätze, flächendeckende
Jugendzentren, adäquate Einstiegsmöglichkeiten in Bus und Bahn auch für
Kinder. Viele Dinge, für die engagierte Eltern im Interesse ihrer
Kinder bislang erfolglos auf die Straße gehen, werden plötzlich
realisiert, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Durch das politische
Gewicht der Kinder wird sich etliches ändern – sicher nicht zu unser
aller Nachteil.
8. Es gibt mehr Respekt und Toleranz Kindern
gegenüber. Wahrscheinlich unterscheiden sich Kinder in ihrem
Wahlverhalten kaum von dem der Erwachsenen. So wie die Frauen insgesamt
kaum anders wählen als die Männer. Vielleicht sind Kinder aber auch
bestimmten Trends und bestimmten Personen eher zugewandt als Erwachsene
und wählen Parteien und Politiker, von denen kaum jemand sonderlich
begeistert ist. Doch wie auch immer: Am grundlegenden Recht auf
politische Selbstbestimmung des jungen Menschen hat niemand
herumzudeuten, es kommt ihnen zu wie jedem anderen Menschen. Auch wenn
Kinder das wählen, was einem gerade nicht passt: Es gilt und es muss als
Realität zur Kenntnis genommen werden. Erwachsene lernen durch das
Wahlrecht für Kinder, auch die von ihren Auffassungen abweichende
Meinung der Kinder zu respektieren und zu tolerieren.
9.
Erwachsene werden zu einer gänzlich neuartigen Einstellung und Beziehung
zu Kindern gelangen. Die Politiker werden bemerken, dass die Pädagogik
die Kinder unrealistisch sieht. Sie werden erkennen, dass Kinder bereits
vollwertige Menschen sind und nicht erst dazu gemacht werden müssen.
Die gesamte Forschung wird neu konzipiert, denn wer die Realität des
Kindes tatsächlich erfasst, hat das erfolgreichere Wahlprogramm und
gewinnt die Wahl. Nicht mehr pädagogische Lehren werden die Beziehungen
zu Kindern bestimmen, sondern die Kinder selbst werden die Erwachsenen
lehren, wie sie die Kinder richtig ansprechen können und wie Kinder ihre
Beziehungen mit den Erwachsenen gestalten wollen. Wer dem nicht folgt,
verliert seinen gesellschaftlichen Einfluss – denn die Konkurrenz, die
sich auf diese Realität einstellt, gewinnt die Wahl. Die neuen
Machtverhältnisse sehen die Kinder als Machtpartner, gleichberechtigt
neben den anderen Gruppen der Gesellschaft. Die politische Emanzipation
bewirkt unaufhaltsam die Gleichwertigkeit auch in den menschlichen
Beziehungen. Es wird sich herausstellen, dass nicht Erziehung, sondern
Beziehung angemessen ist, wie stets, wenn Menschen auf einer gleichen
Stufen miteinander leben. Die Erwachsenen erleben in Kindern Menschen,
die sie nicht missionieren müssen, sondern die ihnen tatsächlich gleich
sind und auf die sie sich stützen können, gesellschaftlich wie privat.
10.
Die Gesellschaft braucht die Kinder als politische Macht. Kinder werden
immer als Hoffnung, als Zukunft gesehen. In der Literatur. Im
Kindergarten. In der Schule. In Festvorträgen. Jetzt wird diese Hoffnung
gesellschaftliche Realität. Die Alltagspolitik – das Ringen darum, wie
alle zusammen leben – wird erweitert und korrigiert. Es ist eine große
Chance der Menschheit, die Kinder an der Gestaltung der Welt wirksam zu
beteiligen. Und es ist vielleicht die letzte Chance. Angesichts der
atomaren Gefahr und der drohenden Vernichtung der Lebensgrundlagen wird
alles in die Waagschale des Lebens geworfen. Die Kinder werden Wege
weisen, die zu gehen niemand bislang gewagt hat. Sie wählen die Partei,
die kompromisslos den Hunger in der Welt beseitigt. Das als einziges
Beispiel. Sie sehen die Welt aus der unverbrauchten Perspektive derer,
die noch Jahrzehnte leben wollen – gesund und in Frieden. Und dies wird
reale Politik.