Wahlrecht für Kinder - Die Situation

Viele Menschen, die in der Demokratie aufgewachsen sind, haben sich mit dem Recht auf Selbstbestimmung identifiziert. Ihr Großwerden in demokratischen Strukturen hat ein spezifisches Bewusstsein entwickelt und ein spezifisches Gefühl: Wo immer das Recht auf Selbstbestimmung unterdrückt wird, können sie nicht ruhig zusehen und engagieren sie sich.

Eine Avantgarde dieser sensiblen demokratischen Menschen hat nun bemerkt und ausgesprochen, dass es eine bislang unerkannte tyrannische Grenze in all der Demokratie gibt, in der sie – privilegiert im Vergleich zu ihren Vorfahren – lebt. Zuerst im Mutterland der modernen Demokratie, in den USA, dann im bürgerrechts-traditionsreichen Frankreich und auch in der demokratischen Bundesrepublik Deutschland ist gegen 1970 bewusst geworden, dass Kinder in einer Diktatur der Erwachsenen leben. Für junge Menschen gibt es keine Demokratie, keine Selbstbestimmung in persönlicher und in politischer Hinsicht. Kinder sind weitestgehend ohne eigene Rechte. Sie sind wie Leibeigene auf die Großzügigkeit und Freundlichkeit ihrer Herrinnen und Herren angewiesen und ihnen gänzlich ausgeliefert.

Die Idee der Selbstbestimmung ist eine uralte Menschheitsidee. Sie hat sich heute eine Spitzenposition im Vergleich zu den Epochen der Geschichte erobert. Sie schreitet unaufhörlich fort, bis auch die letzte Unterdrückung namhaft gemacht und beseitigt ist. So wird heute eine besondere Bastion der Unterdrückung bewusst: Die Diskriminierung aufgrund des jungen Alters.

Diskriminierungen anderer Art sind bekannt, und der Kampf um ihre Beseitigung ist fortgeschritten – etwa die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe, der Religion, der Herkunft, der ethnischen Zugehörigkeit. Aber zu erkennen, dass auch durch das junge Alter diskriminiert wird, kann erst durch die Menschen gelingen, die selbst in demokratischen Verhältnissen Großwerden und die die demokratische Idee unumkehrbar für ihr eigenes Leben annehmen.

Hinzu kommt die revolutionäre Bedrohungssituation der Menschheit insgesamt durch die atomaren Waffen und die Gefährdung der Lebensgrundlagen. Die dadurch aufgeworfenen gänzlich neuen Fragen, die nach ebenfalls gänzlich neuen Antworten drängen, erhellen den Blick auf die unbemerkte Diktatur über den jungen Menschen. Wie soll jemals Friede gelingen, wenn auch die demokratischsten Menschen zunächst eine lange, entscheidende Zeit ihres Lebens in tyrannischen Verhältnissen aufwachsen?

Die neuen Antworten lauten: Dass Menschen nicht erst zu richtigen Menschen werden, wenn sie groß sind, sondern dass sie schon von Geburt an vollwertige Menschen sind. Dass das Erziehungsdenken – »Wir helfen den Kindern, dass aus ihnen richtige Menschen werden« – Ausdruck der traditionellen abendländischen Missionshaltung und des Herrschaftsanspruchs des Patriarchats ist. Statt dessen wird der junge Mensch anders gesehen: Als von Anfang an befähigt, selbst das eigene Beste wahrnehmen zu können. Es entsteht die »Sanfte Geburt«, in der dem Neugeborenen die Regie bei der Geburt nicht genommen wird, es wird mit »Unterstützen statt erziehen« ein postpädagogisches Beziehungskonzept entwickelt, es ergibt sich eine radikal andere Sicht vom jungen Menschen, die Neotenie: Der reife, weitestgehend entwickelte Mensch ist nicht der erfahrene und ältere, sondern der junge und jüngste. Die Offenheit und Lernbereitschaft, Sozialität und Intelligenz, die Sensibilität und Kreativität, der Lebensmut und die Lebensfreude des jungen und jüngsten Menschen – das gilt es ein Leben lang zu bewahren. Mit dieser Ressource besteht eine Chance, die gegenwärtigen Probleme der Menschheit zu lösen.

Diese Sicht hat revolutionäre Folgen für das Zusammenleben mit Kindern. Beispielsweise muss das Schulsystem vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Nicht mehr Erwachsene haben zu entscheiden, was in die Köpfe der Kinder gefüllt werden soll, sondern die Kinder bestimmen offen über ihr Lernen selbst und bedienen sich dabei der Unterstützung und Loyalität der Erwachsenen: wie bei der Geburt, beim Essen, beim Laufen, beim Schwimmen, beim Radfahren, so nun auch beim Lesen, Schreiben, Rechnen. Wie stets, wenn man etwas noch nicht tun kann oder etwas noch nicht weiß, wenn man aber sehr wohl bei aller äußeren Unfertigkeit in sich spürt, was einem gut tut und was nicht und welcher Weg eingeschlagen werden soll. Der ältere und erwachsene Mensch versteht sich jetzt als Helfer und Freund, nicht mehr als Vormund, nicht als selbstgerechter Vormund und auch nicht als gütiger Vormund mit immer neuen Erziehungsmethoden.

Als Selbstverständlichkeit folgt aus diesem neuen Denken, dass die politische Selbstbestimmung auch für Menschen unter 18 Jahren gilt, ohne jegliche Alterseinschränkung. Jedes Wahlalter ist eine undemokratische Diskriminierung. Wie einst Männer, Frauen und Schwarze von der politischen Macht ferngehalten wurden, so geschieht es heute noch mit den jungen Menschen.

Die Erwachsenen erkämpften sich die Macht mit revolutionärer Gewalt oder mit ökonomischem Druck. Kinder haben diese Mittel nicht, doch existiert für sie eine andere Möglichkeit: Sie können die Herzen der Mächtigen gewinnen. Diese Revolution kann nur aus dem demokratischen Gefühl der Erwachsenen kommen, aus ihrem Wunsch und ihrem Verlangen, dass Recht und Freiheit und politische Selbstbestimmung auch für ihre Kinder gelten sollen.

Die Kinder erinnern die Erwachsenen an ihre eigene Kindheit und an die Ohnmacht dieser Zeit. Erwachsene können sich heute wie die Geschwister ihrer Kinder sehen, die Fraternité der Französischen Revolution wird als Geschwisterlichkeit zu einer neuen Kraft. Wer mit diesem veränderten Bewusstsein seinen Kindern in die Augen sieht, erkennt ihren Anspruch auf Selbstbestimmung in jeglicher Hinsicht – der psychologische Kampf der Kinder um die Teilhabe an der Macht hat begonnen.

Erwachsene, die den Glauben an ihre eigenen Kindheitswahrheiten nicht verloren haben oder wieder finden, solidarisieren sich mit den heutigen Kindern, und sie billigen ihnen das Recht zu, über das eigene Schicksal selbst zu bestimmen. Diese innere Entscheidung der neuen Erwachsenen erhält jetzt ein Bewusstsein, eine Sprache und eine Forderung an die anderen Erwachsenen: Die Forderung nach der Überwindung der Wahlalterdiskriminierung und nach einer entsprechenden Änderung des Grundgesetzes. Die demokratische Idee lässt sich nicht vor Kindern verbergen – und sie sollte auch nicht verborgen werden. Demokratie, unbegrenzt und ungeteilt, ist erforderlich, um die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft zu bestehen, gemeinsam mit den Kindern, in einer Welt, in der sie länger leben als wir.

Der demokratische Gedanke wird von einer wichtigen emotionalen Komponente begleitet: Er muss auch gefühlt werden. Auch Demokratie muss gefühlt werden. Die Revolutionen sind nicht nur mit dem Bewusstsein von der Unterdrückung und dem Widerstand dagegen, sondern auch mit dem Gefühl für Recht und Freiheit erfolgt. Nur wer daran leidet, dass Kinder in einer scheußlichen Diktatur gefangen gehalten werden, wird dies beenden können, beenden wollen, beenden müssen.