"Jeder Mensch kann sich lieben, so wie er
ist. Diese konstruktive Sicht auf sich selbst kommt aus dem Lebenswillen und
wird durch nichts und niemanden in Frage gestellt. Selbstliebe ist ohne
Egoismus und von Nächstenliebe umgeben." So steht es als Punkt 1 in den "Grundlagen
amicativer Lebensführung". Selbstliebe ist für jemanden, der sich auf die
amicative Gesamtaussage bezieht, möglich, erlaubt, selbstverständlich, Basis.
Wenn man dem
Selbstliebegedanken zustimmt und sich zu eigen gemacht hat, wenn man ihn jetzt
wieder oder schon lange wieder oder immer schon in sich trägt, dann gibt es an
die Probleme und Belastungen nicht (mehr), die Menschen mit sich herumtragen,
die wenig an sich glauben, die immer wieder an sich arbeiten müssen, die nie
aufhörende Schuldgefühle haben, die auf einer ziemlich dunklen und trüben Seite
des Lebens wandern. Wer an sich glaubt und es nicht für übertrieben hält, sich
auch noch zu heben, der ist von Sonne umgeben. Zumindest im Nachdenken und im
Selbstbild. Die Schwierigkeit, wie man diesen schönen Selbstliebegedanken auch
im Alltag erlebt, will dann noch gemeistert sein. Aber irgendwie geht das dann
schon, mal besser, mal schlechter. Jedenfalls stimmt die Richtung, auch wenn
der Weg dorthin immer wieder nicht so klar ist. Was einen aber letztlich nicht
verdrießt. Denn, so ist das Gefühl, es ist ja erkannt, was einem gut tut und
was nicht. Gut tut es, an sich zu glauben und sich zu heben. Anderes nicht.
Wenn das soweit
klar ist (und es "nur" noch und immer wieder darum geht, die
Selbstliebe dann auch real zu erleben), dann gibt es einen weiterführenden
Gedanken, der etwa so klingt: ..Es ist die Grundlage meiner Sicht von mir, dass
ich mich lieben kann, so wie ich bin. Kein Thema. In dieser Frage bin ich
entschieden und gelegentliche Praxistiefs werfen das alles nicht um. Ich bin
mir meiner Selbstliebe sicher. So weit so gut. Und nun, von dieser Sicherheit
aus, sehe ich mich nach dem Anderen um. Von dieser meiner Selbstliebebasis aus
frage ich nach Dir: Was kann ich für Dich tun? Was brauchst du? Wer bist
Du?"
Amication hat die
Selbstliebe als unverzichtbares Gut erkannt. Selbstliebe ist nicht gegen andere
gerichtet, sie ist ohne Egoismus. Und sie enthält ein großes Tor zum Nächsten,
zu dem Anderen, den man aus seinem Ruhen in sich heraus sieht, dem man sich nah
fühlt und dem man seine Unterstützung anbieten kann. Es ist die Frage, wann man
in sich bemerkt, dass es dieses Tor gibt, und wann man es durchschreiten will.
Es gibt nichts, das einen dazu drängt. Und wenn man sich seiner Selbstliebe
nicht so sicher ist, wird man sich kaum um dieses Tor kümmern und daran
vorbeigehen. Aber es ist da, und wenn die Zeit gekommen ist, wird man es
bemerken und sich seiner bedienen.
Warum soll man
nicht durch das Tor der Nächstenliebe zum Anderen gehen? Es gibt da keinen
Stress und keine Pflicht. Keine Moral setzt amicative Menschen unter Druck,
sich dem Anderen zuzuwenden. Jeder ist sein eigener Chef. Das ist amicative
Grundposition. Aber man kann. Man kann nach dem fragen, was der Andere braucht,
man kann ihn unterstützen, seine eigenen Dinge tun zu können. Wenn man dazu die
Zeit und die Kraft hat. Aber ist diese Kraft denn nicht längst da bei denen,
die sich selbst so lieben, wie sie sind?
Das muss man
sehen, von Fall zu Fall. Ich möchte es in Erinnerung rufen, diese Möglichkeit,
sich einmal um den Anderen und seine kleinen und größeren Nöte zu kümmern.
Warum nicht? Einfach mal nett sein und schauen. Wenn der es dann Marke
"Kleiner Finger – ganze Hand" sofort überzieht, kann man es ja wieder
sein lassen. Aber mir geht schon durch den Sinn, dass diejenigen, die voll des
süßen amicativen Selbstliebehonigweins sind ‑ und davon kann
man nicht voll genug sein ‑, sich auch einmal um den Becher des
Anderen zur Rechten und zur Linken kümmern können. Könnten.
Nein, natürlich
soll daraus, dass man mal gefragt hat, kein Anspruch des Anderen erwachsen, man
hätte sich nun öfter so um ihn zu kümmern. Die Frage nach dem Anderen ist nicht
der Beginn einer neuen Verstrickung und Abhängigkeit, die amicative Menschen ja
gerade erst mühsam überwunden haben. Wir haben uns von dieser unguten
Verklammerung gelöst, dass die Wünsche des Anderen unsere eigenen Wege
verstellt haben. Wir haben ja gerade diesen Griff auf uns überwunden, wie er in
jeder (pädagogischen) Kindheit einen jeden von uns klein, ohnmächtig und
schuldbewusst am Boden hielt. DAS habe wir hinter uns, dieses Kümmernmüssen um
den Nächsten aus dieser ganzen Anspruchswelt heraus. Dagegen steht unsere
Fanfare "Ich liebe mich so wie ich bin". Das alles ist schon klar,
und dahin soll es nicht zurück gehen.
Aber der Gedanke
des Hinschauens auf den Anderen kann eben auch jenseits dieser schrecklichen
Verdrehung gedacht werden. Das Kümmern um den Anderen kann aus der
Diskreditierung gelöst werden, den das Anspruchsdenken über die Nächstenliebe
gestülpt hat. Gelöst werden aus dem wilden Wahn, in den der Andere wegen all
dieser Verdrehung gefallen ist, dass er nämlich meint, sich zu recht an uns
wenden zu können, uns zu recht für seine Not vereinnahmen zu können, uns zu
recht die Pflicht auferlegen zu können, dass wir uns um ihn kümmern. Schluss
mit diesem schaurigen Szenario. Amication! Jeder ist für sich selbst
verantwortlich. Wir weisen solch ein Ansinnen zurück, es ist von der anderen
Welt. Unsere Beschwörungsformel gegen diesen lähmenden Zauber heißt "Ich
liebe mich so wie ich bin", solange wehrhaft und zugleich ohne Missachtung
immer wieder wiederholt, bis der Drachenkopf aus Anspruch und Schuld wieder
versinkt im Meer der unendlichen Möglichkeiten. Nein: Wir lassen uns nicht mehr
einfangen.
Von vorn: Der
Gedanke des Hinschauens auf den Anderen kann auch jenseits dieser Verdrehung
gedacht werden. Einfach mal so. Für Mutige. Oder beiläufig, ohne sich viel
dabei zu denken. Oder als banaler Reflex in unseren Beziehungen. Ja ja, wenn
das denn alles so beiläufig und so banal schon ist! Wenn genug Liebe zwischen
uns lebt, ist so etwas beiläufig und banal. Aber auch dort gilt: Wenn es eine
wahre Liebe ist, keine, die auf Kosten des anderen geht.
Ist es eine noble
Geste, nach dem Anderen Ausschau zu halten? Warum nicht. Wir sind noble
Menschen. Sind wir nicht reinen Herzens? Sind wir, und zwar uns selbst
gegenüber, denn das "Ich hebe mich so wie ich bin" ist nur arglos und
ohne irgendwelche Listigkeiten möglich (Sonst wird es eine Farce und klappt niemals).
Und diese hinterhaltslose Herzlichkeit kann man auch zum Anderen wenden, eben
mal vorbeischauen, wie es ihm geht, was der denn so braucht, unser Nächster,
unser Partner, unser Kind.
Es ist immer
wieder erstaunlich, wie offene Bücher die Anderen sind. Sie lassen doch stets
erkennen, wo sie gerade sind und was sie brauchen. Eigentlich muss man sie
überhaupt nicht fragen, es ist sowieso klar, was anliegt. Man kann da schon
gleich den nächsten Schritt tun und sich selbst fragen, was man tun kann, damit
sie bekommen, was ihnen gut tut. Das "Was braucht Du? Was kann ich für
dich tun?" klingt sowieso nur aufgesetzt und unwirklich therapeutisch. So
kann das nicht gehen. In Wirklichkeit entfällt diese Frage auch als real
gestellte Frage. Aber sie hat ihre Bedeutung in uns selbst. Sie ist das Tor zum
Anderen, sie ist unsere Sensibilität für den Anderen, in Gedanken gefasst, sie
lässt uns anlegen an sein Lebensschiff. In der Welt des Handelns wird dann
sichtbar, was wir im Moment gerade für Menschen sind: Nämlich solche, die aus
ihrer Selbstliebe heraus auch für den Anderen da sind und die helfen, dass
geschieht, was der Andere jetzt braucht.
Wisst Ihr, was
Eure Anderen brauchen? Wann wisst Ihr es? Einmal im Monat, einmal in der Woche,
einmal am Tag, einmal in der Stunde? Einmal in der Minute gilt nur für frisch
Verliebte, und das ist man selten .... oder lässt sich dieses behutsame
"Du bist mir wichtig ‑Gefühl" pflegen und wieder
herbeiholen? Und wenn Ihr es denn präsent habt, was Euer Anderer gerade
braucht, was hindert Euch daran, dies zu tun? Wie üblich hunderttausend
Beziehungssteine. Klar. Aber, und nur das schlage ich vor, man kann ja mal
schauen, einfach mal so schauen und einfach mal wieder erkennen, was der Andere
braucht und es ihm vielleicht geben. Weil das Wetter schön ist. Oder weil es so
schlecht ist. Weil, eben. Das ist jedenfalls nicht verboten und das kann ein
jeder tun. Wenn man es denn will, ohne es zu sollen oder zu müssen, als Chef
des eigenen Lebens. Und: "Könnt mich doch freuen, wenn ich Dir gebe, was
Du brauchst. Mir zur Ehre und zum Hosianna." Nicht großartig inszeniert,
sondern eben beiläufig. Weil ich mich so liebe, wie ich bin.
Ich meine ja
nicht, dass man sich um der schönen Effekte willen verbiegen soll. Ich meine
nur, dass man sich einfach auch in diese Region seines Selbstliebelandes
begeben kann und dort auch Blumen pflanzen kann. Darauf mache ich aufmerksam
und dazu lade ich ein. Wer Lust hat, kann das machen, mitmachen. Auch dieses
Spiel des Lebens mitspielen. "Ich kann mich auch um Dich kümmern."
Ich kann das tun. Jeder kann das tun. Amicative Nächstenliebe ist ein Geschenk
wie die Selbstliebe. Auch sie ist uns geschenkt, als eine Kraft, die in uns
ist.
Kinder werden
dauernd genervt und gequält mit dem "Kümmere dich!" Um die Hausaufgaben,
die gewaschenen Hände, das Vertragen, unsere Ruhe. Sie sollen sich ohne
Unterlass um uns unsere Vorstellungen vom Leben und um unsere Wünsche ‑kümmern. Schöne Nächstenliebe!
Der Blick auf dieses Geschenk des Lebens wird in der pädagogischen und Oben‑Unten‑Welt, in der wir
groß geworden sind, so verfälscht, dass einem ganz grundsätzlich die Lust
vergeht, sich des Anderen anzunehmen. So etwas wird anstrengend, zur Pflicht,
zum Staatsakt. Oder so aufgebläht, dass man für seine Aufopferung und edle
Sozialgesinnung mindestens den Nobelpreis erwartet.
Wirkliche
Nächstenliebe findet beiläufig statt, sonst ist es Show. Kein Vorwurf, aber
doch schal und ganz fern der Möglichkeiten, die wir in uns tragen. Wie kann man
seine Nächstenliebe entwirren, befreien, zurückerobern? Nur kein Stress! Kein
Bemühen, keine Arbeit. Einfach mal überraschen. Nicht zuviel, nur ein bisschen.
Ein bisschen Nächstenliebe.