Auf die Proklamation des Deutschen Kindermanifestes gibt es viele
Reaktionen. Neben Zustimmung wird auch Unverständnis und Ablehnung
geäußert. Im Jahr 1982 schreiben Jans-Ekkehard Bonte und Hubertus von
Schoenebeck einen Offenen Brief an Kritiker:
Das
Deutsche Kindermanifest scheint bei pädagogisch ambitionierten Menschen
die ganz besonders großen Bedenken auszulösen. Auch wir hatten beim
ersten Lesen der Rechte-Auflistungen bei John Holt und Richard Farson
Fragen und Schwierigkeiten. Von der heutigen Gesellschaft aus betrachtet
scheinen die Forderungen der Kinderrechtsbewegung teils utopisch, teils
gar rückschrittlich.
Ein Beispiel: In Artikel 9 des
Deutschen Kindermanifestes wird gefordert: »Kinder haben das Recht,
gegen Entgelt zu arbeiten.« War es denn nicht eine historische
Errungenschaft, die Kinderarbeit abgeschafft zu haben? Doch wenn wir
dann daran dachten, wie viel wir selbst als Kind gearbeitet hatten (was
natürlich aus Erwachsenensicht nicht Arbeit genannt wurde, und wir
stattdessen bloß für gelegentliche finanzielle Unterstützung durch die
Großen dankbar zu sein hatten), relativierte sich diese Errungenschaft
schon sehr. Uns fiel auf, wie scheinheilig diese Gesellschaft mit
Rechten verfährt. Kinder waren in Fabriken nicht mehr nötig, weil
genügend Arbeitskräfte vorhanden waren, und weil es profitabler war,
diese per Schule mehr zu qualifizieren. Also kam ein Jugendschutzgesetz.
Die dann ausschließlich in den Blick gerückte Fürsorglichkeit der
Erwachsenen – die eben sehr handfeste wirtschaftliche Gründe hatte –
macht die Unehrlichkeit aus. Abgesehen davon, dass so genannte private
Arbeit z.B. auf Bauernhöfen oder in Handwerksbetrieben davon unberührt
blieb. Heute ist für alle Kinder tagtäglich äußerst fremdbestimmte und
mit unendlichem Leid, Ängsten und Demoralisierungen verbundene
Zwangsarbeit Realität: Die »Errungenschaft« Schule, deren
Zwangscharakter (Schulpflicht, Lernpflicht, Beurteilungszwang) entgegen
Artikel 12 des Grundgesetzes Zwangsarbeit ist (»Niemand darf zu einer
bestimmten Arbeit gezwungen werden«).
Langsam haben wir
angefangen, uns zu überlegen, welche Ursache Schutzgesetze haben. Es
ist immer deutlicher geworden, dass da jemand vor einem System geschützt
wird, in das er aus wirtschaftlichen Gründen (noch) nicht integriert
werden kann. Ausgangspunkt solcher Gesetze ist bestehende
Wirtschaftsordnung und ihre Funktionsfähigkeit. dass dabei auch ab und
zu etwas Menschlichkeit abfällt, ist ein Nebenprodukt, dem dann ohne
Scham die Hauptbedeutung beigemessen wird.
Das Deutsche
Kindermanifest hat einen anderen Ausgangspunkt. Es geht davon aus, dass
Menschen Erwachsene werden können, die nicht durch Erziehung deformiert
werden und die daher ein Leben lang in der Lage sind, ihre
Möglichkeiten und auch Risiken rational zu betrachten und entsprechend
zu handeln. Diese Menschen werden keinen Schutz suchen, sondern
Ungerechtigkeiten abbauen wollen – das heißt, dass ein Staat, der auf
der Angst zahlloser Generationen begründet ist (wie dies auch für unsere
adultistische Ordnung gilt), sich vor ihnen schützen muss.
Wie
weit dieses Schutzbedürfnis (der adultistischen Erwachsenenwelt vor den
Selbstbestimmten Kindern) geht, verdeutlichte uns ein
Jugendrechtsexperte stellvertretend für viele. Er verteufelte das
Deutsche Kindermanifest wegen seines Artikels 3 (»Kinder haben das
Recht, für ihr Leben und für ihre Taten die rechtliche Verantwortung zu
übernehmen«), denn er hielt es als Fachmann – nämlich
Jugend(straf)richter – für unverantwortlich, Kinder noch früher in
Kontakt mit dem Strafrecht treten zu lassen. Hierbei übersah er zum
einen, dass die Artikel des Deutschen Kindermanifestes die Kinder nicht
verpflichten, dies oder jenes zu tun. Das heißt, ein Kind muss nicht die
rechtliche Verantwortung für sein Leben und Tun übernehmen – aber es
kann dies, wenn es selbst so entscheidet. Und anzunehmen, Kinder würden
dabei die Pflichten und Sanktionen, die unsere Gesellschaft für alle die
parat hält, die Vollbürger sind, außer acht lassen oder unkorrekt
bewerten, ist typische erwachsenenzentrierte Denkweise.
Zum
anderen kam er natürlich nicht auf die Idee, die tatsächliche Gefahr –
die nicht die Souveränität des Kindes ist, das sich rechtlich
verantworten will – abzuschaffen: das Strafrecht insgesamt. Bei diesem
Zweig der Rechtswissenschaft handelt es sich seiner Meinung nach um
Bürgerrecht, d.h. so etwas ähnliches wie natürliches Recht. Tatsächlich
handelt es sich aber lediglich um staatliches Ordnungsrecht gegen
besonders Anpassungsunwillige oder Anpassungsunfähige. Jedes mal wenn
versucht wird, im Bereich der Straffälligenhilfe die Idee von der
Abschaffung der Gefängnisse zu vertiefen, schlagen dem Wogen der Angst
und Aggression entgegen. Die Angst der Menschen vor den Menschen ist so
tief eingeprägt worden, dass gewohnte und nutzlose Mechanismen in
irrationaler Weise beantwortet und endlos fortgesetzt werden. Das geht
so weit, dass eben lieber schon Kinder in Formen gepresst werden, als
dass mutig ein Ansatz zur Veränderung gewagt wird. Um so wichtiger ist
es, hartnäckig zu bleiben und die Aussagen der Kinderrechtsbewegung
immer wieder ins Spiel zu bringen.
Wir verkennen nicht,
dass es bei vielen Erwachsenen Bedenken und Ängste gibt, wenn man ihnen
vor Augen hält, dass die Kinder tatsächlich all diese Rechte haben und
dass es im Grunde nicht zu verantworten ist, ihnen die Ausübung ihrer
Menschen- und Bürgerrechte vorzuenthalten. Die Ängste kommen von
Menschen, denen die Vorstellung von gleichberechtigten und
Selbstbestimmten jungen Menschen ungewohnt, fremd und abenteuerlich
sind. Doch all diese Angst, die aus der eigenen Schutzreaktion auf die
Angriffe der Erwachsenen in der Kindheit kommt und sich tief in den
erwachsen gewordenen Kindern festgesetzt hat, schmälert ja nichts an den
Fähigkeiten der nachwachsenden jungen Menschen, ihren Rechten und ihrer
Fähigkeit zum sinnvollen Umgang damit.
Wenn wir
Erwachsenen allgemein sicherer geworden sind mit einer neuen Beziehung
zu Kindern und uns selbst, wenn wir weniger Angst haben und uns auf das
Selbstbestimmte Kind – das wir sind und das die jetzt jungen Menschen
sind – mehr und mehr einlassen, werden wir auch den jungen Mitbürgern
die Ausübung ihrer Rechte nicht länger vorenthalten. Und es wird uns
dann schwer vorstellbar sein, dass wir das so lange Zeit taten. Es ist
dies eine historische Entwicklung, an deren Beginn wir stehen, und die
Kinderrechtsbewegung hat dieselben Anfangsschwierigkeiten zu überwinden
wie vor ihr etwa die Sklavenbefreiung, die Frauenbewegung oder der
Antirassismus.
Das Deutsche Kindermanifest stellt die
vielen oft isoliert erhobenen Forderungen der Rechte junger Menschen
zusammen. Und sicher werden sich noch weitere Rechte finden lassen, wenn
wir mit der Problematik der Kinderrechtsbewegung vertrauter sind.
Beispielsweise haben junge Menschen selbstverständlich auch das Recht,
ihre eigenen Kinder bei sich groß werden zu lassen. Der Artikel lässt
sich ergänzen als:
Artikel 11a Recht auf aktive Unterstützung
Kinder haben das Recht, ihre Kinder bei sich groß werden zu lassen und sie auf ihrem eigenen Lebensweg zu unterstützen.
Müssen
Rechte nicht immer auch mit Pflichten verbunden werden? Diesen oft
gehörten Einwand halten wir in Bezug auf das Deutsche Kindermanifest für
falsch. Denn das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf
Gleichberechtigung sind Rechte, die jedermann zukommen, zunächst einmal
losgelöst von Pflichten: Sie sind absolute Rechte. Unverzichtbare,
grundlegende Rechte mit Pflichten zu verbinden ist die Übertragung eines
woanders richtigen Prinzips – Ausgewogenheit von Rechten und Pflichten –
auf einen unzutreffenden Bereich. Sicher kann man überlegen – und wird
dies im Zuge der Realisierung der Rechte junger Menschen auch sorgfältig
und im Geist der neuen Beziehung tun müssen –, welche Pflichten den
Kindern erwachsen, wenn sie von ihren Rechten Gebrauch machen wollen.
Aber diese Überlegungen haben bei der zunächst erforderlichen und längst
überfälligen Aufstellung der Rechte junger Menschen nichts verloren.
Das Deutsche Kindermanifest konkretisiert das absolute Recht auf
Selbstbestimmung und das absolute Recht auf Gleichberechtigung. Dies
wird in der Präambel deutlich gesagt. Und es hat nicht – wie von vielen
oft bezeichnenderweise erwartet – zur Aufgabe, für Kinder ein
ausgewogener Katalog von Rechten und Pflichten zu sein.
Das
»Jeder Mensch ist von Geburt an zur Selbstbestimmung fähig« kann unter
verschiedenen Aspekten gesehen werden. Etwa medizinisch, existentiell
oder auch politisch-rechtlich, wie dies das Anliegen der
Kinderrechtsbewegung ist. Das bedeutet dann: »Da ich Selbstbestimmt bin,
ergeben sich Rechte für mich, in die niemand einzugreifen hat und die
mich als gleichberechtigter Bürger am Leben der Gemeinschaft teilnehmen
lassen.« Hieraus erwächst dem Gemeinwesen die Verpflichtung, dafür Sorge
zu tragen, dass auch tatsächlich jedermann – und selbstverständlich
auch junge Menschen – sein Recht ausüben kann.
Es ist
sinnvoll, sich einmal klar zu machen, welche politisch-rechtlichen
Konsequenzen sich aus der grundlegenden Aussage »Jeder Mensch ist
Selbstbestimmt von Geburt an« ergeben. Das Deutsche Kindermanifest
erfüllt diese Aufgabe. Die Verwirklichung der Forderung, Kinder an der
Ausübung ihrer Rechte nicht mehr zu behindern, wird mit dem Deutschen
Kindermanifest nicht angesprochen. Dies fällt in den Bereich politischer
Arbeit und wird entsprechend der jeweiligen
historisch-gesellschaftlichen Situation durchgeführt werden. Das ist
langfristige Arbeit. Dennoch lässt sich aber auch heute schon in vielen
Bereichen die Behinderung der Inanspruchnahme von Rechten durch die
Kinder aufgeben, vor allem bei den »Individuellen Rechten«. Hier kann
jeder in seiner Familie – gestützt auf den Grundgesetzartikel 6 – das
Deutsche Kindermanifest konkret werden lassen. aus: Jans-Ekkehard Bonte
und Hubertus von Schoenebeck, Zum Verständnis des Deutschen
Kindermanifestes, in: Freundschaft mit Kindern – Heft 4, Münster 1982,
S. 37 ff.